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12.02.2024

Giulia Ritter

„Die Medizin muss grundsätzlich familienfreundlicher werden“

Das Foto zeigt die bvmd-Präsidentin Giulia Ritter.
Seit Januar bvmd-Präsidentin: Medizinstudentin Giulia Ritter. Foto: bvmd

Giulia Ritter ist angehende Ärztin und Präsidentin der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd). Im Klartext-Interview spricht sie über das Berufsmonitoring Medizinstudierende, die Qualität der Lehre und den Trend zur Allgemeinmedizin.

Frau Ritter, welche Rahmenbedingungen braucht es, damit sich junge Mediziner:innen in der Versorgung engagieren?

Die letzten Umfragen des Berufsmonitorings spiegelten sehr kontinuierlich die Wünsche der zukünftigen Ärzt:innen wider. Das sind zum einen flexible Arbeitszeiten, zum anderen eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Außerdem gute Teamzusammenarbeit, also auch Delegation, eventuell einen Abbau von Hierarchien im Gesundheitssystem und ein breites Tätigkeitsspektrum. Damit ist vor allem das Bedürfnis nach Abwechslung und neuen Herausforderungen gemeint, aber auch der Wunsch nach Möglichkeiten zur Weiterbildung. Vielen zukünftigen Ärzt:innen ist eben auch wichtig, dass der eigene Wissensstand im Berufsleben nicht irgendwann einfriert. Ich glaube, das ist tatsächlich auch für die ambulante Versorgung ein großer Knackpunkt.

"Haben ein Umverteilungsproblem": Ritter sieht die bloße Erhöhung von Medizinstudienplätzen kritisch. Foto: iStock / SDI Productions

Man sieht aber, die Beliebtheit der Allgemeinmedizin hat zugenommen, immer mehr Studierende können sich die Allgemeinmedizin vorstellen und immer weniger Studierende sehen die Allgemeinmedizin als absolutes „No go“. Ich vermute, das Ganze ist besonders darauf zurückzuführen, dass die Allgemeinmedizin in der Lehre eine immer größere Rolle spielt und den Studierenden dadurch aufgezeigt wird, wie abwechslungsreich dieser Bereich sein kann. So wird nach und nach mit dem Klischee der klassischen Hausarztpraxis auf dem Land aufgeräumt. Es ist wichtig zu zeigen, was für eine Vielfalt an Themen eigentlich im Arbeitsalltag wichtig sein kann.

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie geregelte und flexible Arbeitszeiten spielen für angehende Ärzt:innen also eine große Rolle: Wie lassen sich diese Erwartungen besser erfüllen?

Es ist erstmal sehr wichtig einzugestehen, dass diese Erwartungen von Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur von Studentinnen gefordert werden, sondern sich durch die Studierendenschaft durchziehen – egal, wie man sich persönlich identifiziert. Das ist eine Forderung, die später von allen gefordert wird und nicht allein auf eventuell werdende Mütter zugeschnitten werden sollte. Ich glaube, die Medizin muss grundsätzlich familienfreundlicher werden oder auch einfach lebensfreundlicher.

Das bedeutet, dass persönliche Grenzen und Arbeitszeiten klar eingehalten werden müssen. Außerdem ist es wichtig, flexiblere Arbeitsmodelle auszutesten, die es aktuell nicht gibt. Dabei kann man sich auch an vielen anderen Bereichen orientieren. Ich glaube, es gibt schon sehr viele innovative Ansätze, in der Medizin werden diese aber nie so richtig erprobt.

Manche Politiker:innen fordern den Ausbau der Medizinstudienplätze, um dem Ärztemangel entgegenzuwirken: Inwiefern könnte das ein Allheilmittel sein?

Wir sehen das sehr skeptisch. So wie es gerade läuft und auch wie unsere Ausbildung läuft, sprechen wir immer von einem sogenannten relativen Ärztemangel. Das bedeutet, dass wir eigentlich genug Leute haben, die ausgebildet werden. Dadurch, dass sich dann aber viele gegen die Klinik oder die Praxis entscheiden, sondern beispielsweise in die freie Wirtschaft, in die Unternehmensberatung oder in die Pharmaindustrie gehen, haben wir es vielmehr mit einem Umverteilungsproblem zu tun. Wir verlieren dort Leute, die ausgebildet worden sind und die eigentlich da wären.

Wir haben ein theoretisches Studium, das uns auf einen praktischen Beruf vorbereiten soll.

Unsere Lösung ist es dementsprechend nicht, mehr Studienplätze zu kreieren, sondern lieber etwas mehr Geld und Zeit in die aktuellen Studierenden zu investieren, um sie besser auszubilden. Wir haben in mehreren Teilen des Berufsmonitorings gesehen, dass die Ausbildung definitiv noch verbessert werden kann und an sehr, sehr vielen Stellen noch Defizite aufweist. Man sollte also Zeit und Ressourcen in eine Veränderung des Gesundheitssystems stecken, um mehr Leute im Gesundheitssystem zu behalten. Und wenn dann noch genug Ressourcen übrig sind, um auch wirklich das Geld in die Ausbildung zu stecken, dann können auch neue Studienplätze eingeführt werden. Jetzt gerade sehen wir das aber erstmal als ein schönes Pflaster, was sehr gut klingt, aber nicht tatsächlich das Problem in seinem Kern löst.

Das Foto zeigt medizinische Präparationstische mit verschiedenen medizinischen Instrumenten.
Laut Berufsmonitoring hat das Interesse an der Chirurgie abgenommen – auch aufgrund schlechter Erfahrungen im praktischen Teil des Studiums. Foto: iStock / Capuski

Wie muss sich die Ausbildung von Mediziner:innen denn sonst noch ändern?

Wir haben ein theoretisches Studium, das uns auf einen praktischen Beruf vorbereiten soll. Ein Knackpunkt in unserer Ausbildung ist natürlich das praktische Jahr. So wie das gerade abläuft, fühlen sich sehr, sehr wenig Leute auch wirklich gut auf den klinischen Alltag als Ärzt:in vorbereitet. Dementsprechend geht es hier auf jeden Fall darum, eine bessere praktische Ausbildung zu haben, mit genauen Logbüchern, mit Selbstlernmöglichkeiten, mit einer sehr engen Betreuung und der Möglichkeit, eigene Patient:innen unter Supervision zu betreuen. In der sonstigen Lehre ist natürlich Digitalisierung ein großer Punkt, der auch dazu gehört, der aktuell aber sehr wenig bedacht wird. Alles in allem bräuchte es einfach einen größeren Fokus auf Lehre in unserem Gesundheitssystem. Lehrstunden müssen also in den Arbeitszeiten von Ärzt:innen mit eingeplant werden, denn sonst hat man nun mal keine Zeit dafür. Ich glaube, die Priorität der Lehre im Gesundheitssystem muss einfach etwas hochgefahren werden.

Die Online-Lehre im Zuge der Corona-Pandemie habe sich negativ auf die Ausbildung ausgewirkt, sagt Ritter. Foto: IMAGO / Cavan Images

Während das Interesse an der Allgemeinmedizin in den klinischen Semestern steigt, verliert das Fach Chirurgie nach der Vorklinik: Wie erklären Sie sich diese Tendenzen?

Die Chirurgie ist ein Paradebeispiel dafür, dass Studierende verschreckt werden können von dem, was sie sehen. Wir sehen in unserem Studium immer nur kleine Teile, nur einen kleinen Ausschnitt aus dem jeweiligen Fachgebiet. Aber die Zeit, die wir in den jeweiligen Fachgebieten haben, die nutzen wir in der Regel sehr ausgiebig und versuchen, uns wirklich einen guten Überblick über das Fach zu beschaffen. Also nicht nur den inhaltlichen Teil, den wir für die nächste Klausur oder für die nächste Prüfung brauchen, sondern eben auch, wie es ist, in diesem Bereich zu arbeiten. Man unterhält sich gegebenenfalls mit den lehrenden Ärzt:innen darüber, wie ihr Arbeitsalltag aussieht, welche Vor- und Nachteile sie in ihrem Bereich sehen und ähnliches. Und die Erwartungen, die wir da haben, also Familie, Freizeit, Team und Kolleg:innen, beruflicher Erfolg, Abwechslung im Beruf – das sind dann eben die Gedanken, die man im Hintergrund hat. Und wenn man dann in der Chirurgie stets ein sehr kaltes Klima erlebt und sich wirklich ausgebeutet fühlt, wenn junge Assistenzärzt:innen sich dort abrackern und keine Freizeit haben, dann ist das durchaus etwas, wo man es sich vielleicht zwei Mal überlegt.

Wieviel Augenmerk sollte auf der ambulanten Versorgung in der Ausbildung liegen?

Ich denke, alles, was man sieht, kann man auch in Betracht ziehen. Das bedeutet, wenn für uns in Deutschland die ambulante Versorgung wichtig ist und wir möchten, dass Studierende dieses später als einen Berufszweig ansehen, müssen wir ihnen auch zeigen, wie es ist, in der ambulanten Versorgung zu arbeiten. Und die Ausbildung sollte gegebenenfalls nicht nur im universitären Rahmen, also in der Klinik, sondern eben auch in ambulanten Bereichen stattfinden.



Alles in allem bräuchte es einfach einen größeren Fokus auf Lehre in unserem Gesundheitssystem.

 

Hier ist es aber selbstverständlich sehr wichtig, darauf zu achten, dass im ambulanten Bereich genug Kapazitäten für diese sehr ausführliche Ausbildung vorhanden sind. Denn das ist immer eine große Sorge unsererseits, dass dann gegebenenfalls einige Studierende einen Nachteil haben, weil Anfahrtswege gegebenenfalls sehr lang sind, weil Studierende kein Auto haben, um zu Praxen zu gelangen und, und, und. Hier müssen die Infrastrukturen wirklich gut vorgegeben sein, damit Studierende weiterhin beruhigt studieren können und nicht Sorgen haben müssen.

"Ich glaube, das sind Stereotypen, die abgebaut werden", sagt Ritter. Die Allgemeinmedizin wird unter Studierenden immer beliebter. Foto: IMAGO / Michael Gstettenbauer

55 Prozent der Befragten können sich eine eigene Praxis vorstellen. Was macht diese attraktiv?

Selbstständigkeit und die Möglichkeit, unabhängig zu sein. Sachen selbst gestalten und flache Hierarchien selbst umzusetzen. Denn letzten Endes ist man dann die Person, die den Takt angibt und all diese Dinge umsetzen kann, was eventuell in hiesigen Kliniken gar nicht möglich ist.

Was ist letztlich wichtig, um genügend junge Ärzt:innen für die ambulante Versorgung zu gewinnen, und was können KVen und Kommunen dazu beitragen?

Grundsätzlich scheint der Wille, ambulant tätig zu sein, ja durchaus gestiegen zu sein. Eine große Angst ist aber immer noch das Chef:in-sein, also eine eigene Praxis zu führen. Hier fehlen ganz, ganz häufig die Kompetenzen und das Wissen. Vielleicht auch die Angst, wie viel Bürokratie auf einen zukommt. Kann ich überhaupt noch als Ärzt:in tätig sein? Oder sitze ich dann den gesamten Tag im Büro und bin nur noch verwaltungsmäßig tätig? All diese Sachen sind glaube ich eine Bildungslücke, die in unserem Studium wenig bis gar nicht behandelt werden. Das ist definitiv etwas, wo man Wissen vermitteln sollte und wo man Wissen auch vermitteln kann. Ich denke, das ist besonders an die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) gerichtet, Studierende mit Interesse an der Niederlassung schon im Studium zu erreichen und zu sagen „Hey, ihr seid doch nicht allein und wir stehen euch zur Seite, wir helfen und es gibt Angebote, wo ihr euch informieren könnt, damit da keine Informationslücke entsteht.“

Gerade für junge Ärzt:innen ist das Thema Digitalisierung bedeutend: Wie nimmt der medizinische Nachwuchs die Schwierigkeiten dieses Entwicklungsprozesses in unserem Gesundheitswesen wahr?

Ich glaube, der Nachwuchs sieht das Thema Digitalisierung als Chance. Nicht nur in der aktuellen Praxis, sondern auch schon in der Lehre, in der Forschung und grundsätzlich als einen neuen Weg. Dementsprechend ist es gerade noch ein etwas überfordernder Faktor, weil wir im Studium in keinster Weise mit Digitalisierung in Kontakt treten und neue Methoden, die es da gibt oder neue Verfahren, für uns noch gar keine Rolle spielen. Und deswegen kann ich mir vorstellen, dass es für einige der jungen approbierten Personen dann ein Problem darstellt, weil es erst mal sehr viel neues Wissen ist, mit dem man in der Praxis dann konfrontiert wird.

 

Wir haben in mehreren Teilen des Berufsmonitorings gesehen, dass die Ausbildung definitiv noch verbessert werden kann und an sehr, sehr vielen Stellen noch Defizite aufweist.

Für Studierende ist es aber essenziell, diese digitalen neuen Methoden bereits ins Studium einzubauen, um sie dann optimal auf den Berufsalltag vorzubereiten und so auch gewissermaßen die digitale Transformation des Gesundheitswesens von der Basis aus zu starten, in der unsere zukünftigen Ärzt:innen diese Kompetenzen bereits erworben haben. Die Ergebnisse zeigen: Sehr vielen Studierenden fehlt dieser digitale Aspekt in ihrem Studium.

Wie hat sich die Corona-Pandemie auf das Medizinstudium ausgewirkt?

Die Ausbildung hat sich auf jeden Fall verschlechtert, das zeigt sich jetzt. Sehr viele Studierende haben das Gefühl, dass sie in ihren praktischen Fähigkeiten sehr viel schlechter vorbereitet sind als andere Jahrgänge, die entsprechende Kurse in Präsenz hatten. Und ich vermute, das Ganze fußt am Ende darauf, dass wir ein praktischer Studiengang sind und die Online-Lehre uns sehr im Weg gestanden hat. Gleichzeitig hat die Pandemie gezeigt, dass wir als Medizinstudierende bereits mitarbeiten und mithelfen können in der medizinischen Versorgung. Doch diese Hilfstätigkeiten, die in der Pandemie übernommen worden sind, die gehören eigentlich nicht in die Ausbildung. Sie wurden von Medizinstudierenden übernommen, aber hatten dann vermutlich eine negative Auswirkung in der Ausbildung. Jetzt wäre also die Möglichkeit zu sagen, „Okay, wir haben gesehen, solche Hilfstätigkeiten bringen uns nicht ans Ziel, wir haben dadurch eine schlechtere Ausbildung“, dann müssen wir uns jetzt darauf fokussieren, die Studierenden viel mehr in der Betreuung und der Versorgung der Patient:innen tatsächlich auszubilden.

Wie stehen junge Mediziner:innen zum Prinzip der Selbstverwaltung?

Der Arztberuf ist ein freier Beruf. Ich würde behaupten, dass Medizinstudierende stets daran Freude haben, solche Dinge wie Selbstverwaltung anzugehen. Sehr oft ist aber das System der Selbstverwaltung, beispielsweise der KBV, für Medizinstudierende sehr abstrakt und schwer zu verstehen, weil das ein System ist, mit dem wir im Studium fast bis gar nicht in Kontakt kommen. Ich denke, durch mehr Implementierung von ambulanter Lehre wird das Ganze sehr viel präsenter werden, weil dann die KBV oder die KVen grundsätzlich sehr viel mehr wirken, als sie es eventuell gerade in der Klinik tun. Die Möglichkeiten, die die Selbstverwaltung und die KBV dem Arztberuf bieten, müssen also einfach noch klarer werden.

Die Fragen stellte Hendrik Schmitz