24.05.2023

Im Gespräch

„Gute Versorgung findet nicht im luftleeren Raum statt“

Das Foto zeigt Dr. Frank Bergmann, den Vorstandsvorsitzenden der KV Nordrhein.
Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der KV Nordrhein. Foto: Lothar Wels | KVNO

1. Was braucht es, um das System der ambulanten Versorgung für die Zukunft zu wappnen?

Mit Blick auf die tendenziell sinkenden ärztlichen Ressourcen im vertragsärztlichen Bereich braucht es künftig vor allem eine effiziente Steuerung und Koordination der Inanspruchnahme ambulanter Versorgung. Ursächlich ist hier insbesondere der demografische Wandel – sowohl unter den Patientinnen und Patienten als auch in der Vertragsärzteschaft. Dem müssen wir mit innovativen Konzepten und einem Ausbau kooperativer Strukturen auch über die Sektorengrenzen hinweg begegnen. Ebenso wird der Ausbau arbeitsteiliger Ansätze in den haus- und fachärztlichen Praxen – Stichwort: „Teampraxen“ – eine wichtige Rolle spielen. Über allem steht aber sicher die Aufgabe, in Summe mehr junge Menschen ins System zu bekommen – auf vertragsärztlicher Seite, aber auch bei den Medizinischen Fachangestellten.



2. Welches Thema liegt Ihnen für Ihre KV-Region in den nächsten Jahren besonders am Herzen?

Angesichts der immensen Herausforderungen bedarf es einer ganzen Reihe struktureller Veränderungen, die nur in ihrer Gesamtheit eine nachhaltige Wirkung entfalten können. Angefangen etwa bei der Finanzierung, die aufgrund anhaltender Teuerungsraten und massiv gestiegener Energie- und Personalkosten für viele Praxen zu einer schieren Existenzfrage geworden ist.

Die KV Nordrhein

Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein stellt mit ihren rund 22.500 Mitgliedern die ambulante medizinische und psychotherapeutische Versorgung von rund 9,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sicher. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Frank Bergmann steht dem Vorstand seit 2016 vor. Stellvertretender Vorstandsvorsitzender ist Dr. Carsten König, Allgemeinmediziner aus Düsseldorf.

Fakt ist: Gute Versorgung findet nicht im luftleeren Raum statt. Es ist für mich zutiefst unverständlich, dass sich die Kassen dieser Realität nach wie vor vehement verschließen und den Orientierungswert am liebsten dauerhaft einfrieren würden. Ein Erhalt des Status quo mitsamt Budgetierung wird unsere Probleme aber sicher nicht lösen, sondern die Versorgungslage weiter verschärfen. Es braucht daher einen verbindlichen und langfristig angelegten politischen Plan zur Beseitigung der seit Jahren herrschenden Unterfinanzierung der Praxen gegenüber dem stationären Bereich – ein unsägliches Paradebeispiel ist hier auch das Thema ambulantes Operieren.

Wenn wir wollen, dass junge, gut ausgebildete Ärztinnen und Ärzte sich für die vertragsärztliche Versorgung der Bevölkerung in einer Region entscheiden und in eine Praxis und damit in Versorgung investieren, dann müssen wir ihnen eine sichere finanzielle Perspektive bieten können.



3. Wie möchten Sie es anpacken?

In einem ersten Schritt wird es auch darum gehen müssen, Drehtüreffekte in den Praxen einzuschränken, um die Frequenz der Arzt-Kontakte pro Patientin beziehungsweise Patient und Jahr zu senken. Im Vergleich zum europäischen Ausland belegt Deutschland hier derzeit einen traurigen Spitzenplatz. Tendenz steigend: Allein in Nordrhein ist die Zahl der Behandlungsfälle zuletzt insgesamt um drei Millionen angestiegen. Das muss dringend besser gesteuert werden. Neben der Delegation von bestimmten Leistungen im hausärztlichen wie auch im fachärztlichen Bereich sehe ich hier großes Potenzial im Aufbau von „Teampraxen“. Den Auf- und Ausbau solcher Strukturen wollen wir künftig unterstützen. Das bedingt regulatorische Änderungen, nicht zuletzt auch in den Abrechnungsfragen. Stichwort Abrechnung: Es braucht intelligentere Abrechnungssysteme als die klassische „Quartalsabrechnung“, sowohl im fachärztlichen als auch im hausärztlichen Bereich hat sich dieses Modell längst überholt; im Bereich der Psychotherapie ist das besonders augenfällig.

Weitere Synergien liegen im Bereitschafsdienst, wo die Belastungsspitzen mitunter höher sind als in der Regelversorgung. Statt aber – wie von der Krankenhauskommission jüngst vorgeschlagen – den Notdienst zu einem 24/7-Service auszuweiten, müssen wir mit unseren Kapazitäten besser haushalten. Sinnvoll ist auch hier ein ressourcenorientiertes Vorgehen, das für Hilfesuchende nach dem telefonischen Erstkontakt über die 116 117 beispielsweise ein erstes telemedizinisches Beratungsangebot vorsieht. Mit einem solchen Modell für den Kinder-Notdienst haben wir über den Jahreswechsel 2022/2023 im Rheinland sehr gute Erfahrungen gemacht. Es ist unser Ziel, dieses Grundkonzept, in Verbindung mit der Implementierung eines professionellen Ersteinschätzungsverfahrens, künftig dauerhaft und flächendeckend im ambulanten Notdienst in Nordrhein zu etablieren.

Das Foto zeigt Bundesgesundheitsminister Heiner Lauterbach bei der Vorstellung der Vorschläge der Krankenhauskommission zur Notfallversorgung.
Die Vorschläge der Krankenhauskommission zur Notfallversorgung sieht KVNO-Chef Dr. Frank Bergmann skeptisch – und plädiert für ein ressourcenschonenderes Vorgehen. Foto: IMAGO / Chris Emil Janßen



4. Welche Bedeutung hat für Sie die ärztliche Selbstverwaltung?

Da müssen wir beispielhaft eigentlich nur auf die vergangenen drei Jahre der Corona-Pandemie zurückblicken und die Antwort liegt auf der Hand. Ohne die bewährten Strukturen der ärztlichen Selbstverwaltung hätten wir die Pandemie sicher nicht so gut gemeistert – ich erinnere nur an die Vielzahl an Schutzmittelausgaben, Teststellen und Impfzentren, für die die KVen nicht nur medizinisches Personal, sondern auch noch die umfänglichen Dokumentationsaufgaben in Kurzzeit organisiert haben. Ohne das Know-how der Selbstverwaltung hätte nicht nur das öffentliche Gesundheitswesen in den Kommunen auf verlorenem Posten gestanden. Auch die Kliniken im Land konnten sich auf ein funktionierendes ambulantes System verlassen. Ich erinnere nur an die Bilder aus Krankenhäusern Südeuropas mit überlaufenden Notaufnahmen.

Nicht zuletzt trägt das ärztliche Ehrenamt maßgeblich auch auf kleiner, aber ebenso wertvoller Ebene – hier etwa im Bereich der Kreisstellen – dazu bei, alltägliche konkrete Anliegen und Probleme der Kolleginnen und Kollegen vor Ort anzupacken und zu lösen.



5. Was wünschen Sie sich von der Politik?

Kurz und knapp: mehr Verlässlichkeit, Planungssicherheit und Wertschätzung für die Praxen. Was die Politik leider konsequent ignoriert, ist, dass Vertragsärztinnen und -ärzte als selbstständige Unternehmerinnen und Unternehmer auch die finanzielle Verantwortung für ihre Praxis inklusive Angestellten tragen. Mit den derzeit gedeckelten Honoraren wird das Wirtschaftlichkeitsgebot aber auf die Spitze getrieben, sodass eine auskömmliche Existenz für viele Kolleginnen und Kollegen heute kaum mehr möglich ist – von der Zukunft ganz zu schweigen. Nicht zuletzt für den Nachwuchs ist das ein fatales Zeichen, womit wir wieder beim Thema Sicherstellung sind. Die Politik muss zudem für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen, wenn sie es mit der propagierten Ambulantisierung ernst meint – auch hier führe ich das Beispiel ambulanter Operationen an. Gleiche Leistungen müssen zu gleichen Preisen entgolten werden. Das bisherige Missverhältnis zulasten der Praxen gehört abgeschafft, und zwar besser heute als morgen.



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