11.08.2023

Im Gespräch

„Miteinander reden und zuhören, anstatt übereinander“

Das Foto zeigt Dr. Burkhard Ruppert den Vorstandsvorsitzenden der KV Berlin.
Dr. Burkhard Ruppert, Vorstandsvorsitzender der KV Berlin. Foto: © KV Berlin/Yves Sucksdorff

1. Was braucht es, um das System der ambulanten Versorgung für die Zukunft zu wappnen?

An erster Stelle braucht es Menschen, die zukünftig die Bevölkerung ambulant versorgen wollen und können! Das ist die wohl größte Herausforderung. Immer mehr ältere Patientinnen und Patienten mit einer stetig wachsenden Gesamtmorbidität werden von immer älter werdenden Ärztinnen und Ärzten ambulant versorgt. So werden in Berlin in den nächsten Jahren etwa 800 von insgesamt 2.300 Hausärztinnen und Hausärzten altersbedingt ausscheiden. Dieses sich jetzt schon abzeichnende Missverhältnis stellt die KV Berlin vor große Versorgungsprobleme. Diese können wir nur bewältigen, wenn die Tätigkeiten in der ambulanten Versorgung für Fachkräfte mindestens so attraktiv sind wie in anderen Bereichen, sonst wandern gut Ausgebildete in andere Versorgungsstrukturen oder Wirtschaftszweige ab.

Hier wird meines Erachtens vollkommen außer Acht gelassen, dass es beim ambulanten Fachkräftemangel auch um die Frage geht, wie viel der Gesellschaft bzw. den Krankenkassen die ambulante Tätigkeit wert ist. Vor allem aber ist für die Ärztinnen und Ärzte und auch für Medizinische Fachangestellte bei der individuellen Auswahl ihres Arbeitsplatzes relevant, in welchen Tätigkeiten Aufwand und Nutzen für die eigene Lebensplanung am besten sind. Und hier ist das ambulante System zurzeit leider häufig nur „zweiter Sieger“.

Dabei steht nicht nur die Frage der Vergütung im Raum. Es geht auch um einen wertschätzenden Umgang mit den Menschen, die in der ambulanten Patientenversorgung tätig sind. Diese Anerkennung wird von vielen derzeit vermisst. Aber auch der zum Teil ignorante Umgang mit dem ambulanten System in der Gesetzgebung spielt eine große Rolle. Beste Beispiele sind die aktuelle Krankenhausreform und die vorliegenden Eckpunkte für eine Reform der Notfallversorgung. Gut gemeint ist hier eben das Gegenteil von gut gemacht. Denn beide Reformen, die das ambulante System nachhaltig negativ betreffen werden, wurden ohne die Expertise der Niedergelassenen konzipiert. So viel zur Wertschätzung des ambulanten Systems. Wegen politischer Profilierungen hat darüber hinaus die Dynamik der Gesundheitsreformen ein Ausmaß angenommen, dessen Auswirkungen für die einzelne Praxis zu unkalkulierbaren Risiken führen wird.

Parallel dazu ist die Weiterentwicklung des ambulanten Systems von den finanziellen Mitteln abhängig, die nur begrenzt zur Verfügung stehen. Auf politischer Ebene wird das jedoch mit Achselzucken kommuniziert. Im gleichen Atemzug wird den Kassenärztlichen Vereinigungen die Forderung überbracht, die Wahrnehmung der Bevölkerung, überall herrsche Unterversorgung, ernst zu nehmen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Das grenzt schon an Hohn. Hier sollte sich die Politik endlich einmal ehrlich machen und der Bevölkerung vermitteln, was tatsächlich leistbar und finanzierbar ist.

2. Welches Thema liegt Ihnen für Ihre KV-Region in den nächsten Jahren besonders am Herzen? Wie möchten Sie es anpacken?

Die KV Berlin steht vor mehreren Herausforderungen. Einerseits wächst die Bevölkerung der Stadt von Jahr zu Jahr und wird es den Prognosen zufolge auch in den nächsten Jahren tun. Andererseits sinkt die Gesundheits- und Gesundheitssystemkompetenz der Bevölkerung. Das heißt, nicht nur die Verunsicherung über die richtigen „Hausmittel“ steigt, sondern auch die Unsicherheit bzw. Unwissenheit, welche Versorgungsstruktur für die jeweilige Erkrankung die richtige ist. Dies führt dazu, dass Menschen während der Praxissprechzeiten in Rettungsstellen sitzen, die eigentlich von Vertragsärzten versorgt werden könnten. Weil aber Krankenhäuser mit „Wir sind 24 Stunden für Sie da!“-Slogans werben und im Zweifel auch die komplette Diagnostikpalette durchführen, braucht es eine „intelligente“ Patientensteuerung, wie wir sie in unserer 116117-Leitstelle schon praktizieren. Dass das in Berlin noch besser sektorübergreifend gelingt, daran arbeitet die KV Berlin mit Hochdruck.

Die KV Berlin

Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin stellt mit ihren über 10.000 Mitgliedern die ambulante Versorgung in der Hauptstadt sicher. Seit 2021 ist ihr Vorstandsvorsitzender der Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Dr. Burkhard Ruppert. Seine Stellvertreterin ist Dr. Christiane Wessel, Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Weiteres Vorstandsmitglied ist der Jurist Günter Scherer.

Gleichzeitig müssen wir als KV Berlin leider beobachten, dass der Mangel an Hausärzten auch in Berlin angekommen ist. Wenngleich die Situation keineswegs mit dem Hausärztemangel in ländlichen Regionen vergleichbar ist, stellen wir fest, dass die Berliner Bevölkerung in manchen Bezirken drohend unterversorgt ist. Deswegen entwickeln wir im Rahmen unserer Möglichkeiten die Systematik der Planungsbezirke weiter. Zudem haben wir ein Sicherstellungsstatut aufgesetzt, das eine Vielzahl von Maßnahmen zur Niederlassungsförderung und ein 21 Millionen Euro schweres Förderprogramm enthält. Mit der Gründung der KV Praxis GmbH betreiben wir darüber hinaus Eigeneinrichtungen in den schlechter versorgten Bezirken, um mit Hilfe von angestellten Ärzten den Versorgungsengpässen zu begegnen. Denn wir stellen fest, dass Ärztinnen und Ärzte nicht nur vermehrt in Anstellung arbeiten wollen, sondern auch eher in großen Einheiten, im Team mit anderen Ärztinnen und Ärzten zusammen. Deswegen ist die Tätigkeit in Eigeneinrichtungen mit Einzelpraxischarakter für viele nicht hinreichend attraktiv. Unsere Forderung ist es daher, auch Medizinische Versorgungszentren als Eigeneinrichtungen betreiben zu dürfen.

Umso wichtiger ist es uns, in der Politik ein Problemverständnis für die Herausforderungen in der ambulanten Versorgung zu entwickeln. Leider stellen wir fest, dass so mancher Politiker „auf dem ambulanten Auge blind“ ist und bei medizinischer Versorgung ausschließlich an Krankenhäuser denkt. Unser Ziel ist es, den Verantwortlichen den Stellenwert attraktiver Bezirke bzw. „Kieze“ zu verdeutlichen und von ihnen Unterstützung einzufordern, zum Beispiel bei der Suche nach bezahlbarem Gewerberaum.




3. Welche Bedeutung hat für Sie die ärztliche Selbstverwaltung?

Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Allerdings mit Änderungen. Es ist ein unschätzbarer Vorteil, dass die Vertragsärztinnen und -ärzte sowie Vertragspsychotherapeutinnen und -therapeuten ihre Angelegenheiten autonom gestalten dürfen. Ich bezweifle, dass derselbe Motivationsgrad, dieselbe Geschlossenheit und dieselbe Effizienz bei der Bewältigung der Corona-Pandemie in einem zentral organisierten ambulanten System entstanden wäre. Leider vergessen das heute die Verantwortlichen in den Ministerien und überantworten uns immer weitere Aufgaben, ohne Rücksprache mit uns und ohne sich darum zu kümmern, wie diese finanziert und personell gestemmt werden sollen. Setzt die ärztliche Selbstverwaltung dann aber nicht wie gewünscht die aktuelle politische Linie des Bundesgesundheitsministeriums oder der Landesministerien um, wird sie öffentlich gebrandmarkt.

Hinzu kommt, dass wir auf regionaler Ebene kaum mehr Spielraum für regionalspezifische Versorgungsverträge besitzen. Das liegt nur zum Teil an den Krankenkassen, es liegt auch an der aktuellen Vergütungssystematik, die auf den Prüfstand gehört.

Letztlich lebt aber ärztliche Selbstverwaltung vom Mitmachen aller beim Dialog. Das genau ist die Stärke der ärztlichen Selbstverwaltung. Sie kann es schaffen, die vielfältigen ärztlichen, psychotherapeutischen und zivilgesellschaftlichen Blickwinkel in die Weiterentwicklung des ambulanten Systems einzubringen. Wenn man sie lässt und wenn man sie wertschätzt.

Das Foto zeigt Dr. Burkhard Ruppert den Vorstandsvorsitzenden der KV Berlin mit Vertretern der Berliner Feuerwehr.
Teil einer sektorenübergreifenden Patientensteuerung ist für die KV Berlin auch die Zusammenarbeit mit der Berliner Feuerwehr. Foto: © KV Berlin/Christof Rieken



4. Was wünschen Sie sich von der Politik?

Dass sie uns zuhört, wenn wir auf Missstände aufmerksam machen, anstatt uns reflexartig zu maßregeln! Am Beispiel der so genannten Bedarfsplanung wird deutlich, dass auf dem politischen Parkett die Zusammenhänge im ambulanten System leider nicht mehr bekannt oder zu komplex sind. Das System der Bedarfsplanung ist heute tatsächlich überholt. Eingeführt wurde diese, um eine vermeintliche Ärzteschwemme seit 1993 zu verhindern. Heute bedarf es einer Systematik, die den eingangs erwähnten demographischen Herausforderungen gerecht werden kann. Trotz dieser Unkenntnisse engt man aber unseren Handlungsspielraum ein und überschüttet uns mit Forderungen. Nicht selten werden diese Forderungen noch medial durch Empörungsberichterstattung untersetzt, um politischen Druck auf die Kassenärztlichen Vereinigungen aufzubauen. Letztlich erzeugt der Druck Gegendruck, allseits Empörung und Unmut und steht einer belastbaren Lösungsfindung im Weg. Kurzum: Miteinander reden und zuhören, anstatt übereinander! Dann wäre schon viel gewonnen.

 

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