01.06.2023

Im Gespräch

„Wir benötigen einen echten Zukunfts-Wumms“

Das Foto zeigt Dr. Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der KV Westfalen-Lippe, Dr. Volker Schrage, stellvertretender Vorstandsvorsitzender und Vorstandsmitglied Thomas Müller.
Dr. Volker Schrage, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KV Westfalen-Lippe (v. l. n. r.), Dr. Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender, und Thomas Müller, Vorstandsmitglied. Foto: © Lars David Neill

1. Was braucht es, um das System der ambulanten Versorgung für die Zukunft zu wappnen?

Dr. Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der KVWL: Um die ambulante Versorgung weiter sicherzustellen, benötigen wir einen echten Zukunfts-Wumms! Was ich damit meine: Wir müssen eine starke Resilienz an den Tag legen, um schneller und zielgerichteter voranzukommen. In Westfalen-Lippe befinden wir uns bereits auf einem guten Weg.

Unsere Praxisnetze leisten beispielsweise erstklassige Pionierarbeit. Die innovativen Versorgungsmodelle, die hier angeschoben werden, müssen aber auch konsequent ihren Weg in die Regelversorgung finden.

Grundsätzlich ist die Niederlassung als Arzt für mich immer noch der schönste Job der Welt, die Bedingungen müssen allerdings zügig verbessert werden: Die Politik muss endlich aufwachen! Es braucht dringend ein neues, tragfähiges Vergütungssystem, die Budgetierung muss endgültig der Vergangenheit angehören.

Zudem muss der Bürokratie-Wahnsinn in den Praxen aufhören, die Anforderungen seitens der Kassen und der Behörden sind zu hoch. Und beim Thema Nachwuchsmangel dürfen wir nicht lockerlassen, es müssen mehr Medizinstudienplätze geschaffen werden.



2. Welches Thema liegt Ihnen für Ihre KV-Region in den nächsten Jahren besonders am Herzen?

Dr. Dirk Spelmeyer: Mein absolutes Herzensthema ist und bleibt die Sicherstellung. Sie genießt besonders im ländlichen Raum absolute Priorität. Aber ich blicke positiv in die Zukunft, denn all die Herausforderungen, die vor uns liegen, gehen wir als KVWL gemeinsam an, weil das Thema Sicherstellung tief in unserer DNA verankert ist. So haben wir inzwischen eine ganze Palette an Maßnahmen entwickelt, um die Niederlassung attraktiv zu halten. Um mal eine Zahl zu nennen: Über unser Förderverzeichnis haben wir allein im Jahr 2022 rund 2,3 Millionen Euro zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Versorgung investiert.

Die KV Westfalen-Lippe

Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe vertritt die Interessen von mehr als 16.000 niedergelassenen Vertragsärztinnen und -ärzten sowie Vertragspsychotherapeutinnen und -psychotherapeuten im nordöstlichen Nordrhein-Westfalen. Vorstandsvorsitzender ist der Coesfelder Urologe Dr. Dirk Spelmeyer. Sein Stellvertreter ist der Allgemeinmediziner Dr. Volker Schrage. Weiteres Vorstandsmitglied ist der Betriebswirt Thomas Müller.

Dr. Volker Schrage, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KVWL: Auf meiner Agenda steht an erster Stelle das Thema Delegation, denn die ärztliche Arbeitskraft ist zu einer knappen Ressource geworden. Die Gründe hierfür sind vielschichtig, von einer wachsenden Nachwuchsproblematik innerhalb der Ärzteschaft bis hin zu einem gleichzeitig steigenden Bedarf an medizinischer Versorgung. Daher müssen wir uns innerhalb der Praxen anders aufstellen, Abläufe noch stärker hinterfragen: Welche Aufgaben kann die Ärztin oder der Arzt abgeben? Welche neuen Berufsbilder braucht es dafür?

Thomas Müller, KVWL-Vorstand: Im Fokus steht bei mir die Digitalisierung im ambulanten Bereich. Als KVWL fühlen wir uns hier auf dem Fahrersitz sehr wohl. Wir wollen uns nicht steuern lassen, verstehen uns vielmehr als konstruktiv kritische Mitgestalterin, wenn es um die Digitalisierung des Gesundheitswesens und die Identifizierung von Verbesserungspotenzial für die ambulante Versorgung geht. Ohne die Praxen kann es nicht funktionieren. Besonders wichtig: Telematikinfrastruktur-Anwendungen müssen immer erst qualitätsgerecht entwickelt und erprobt werden, bevor sie in die breite Masse kommen.



3. Wie möchten Sie es anpacken?

Dr. Dirk Spelmeyer: Wie es sich in Westfalen-Lippe gehört – wir krempeln die Ärmel hoch und legen los. Wir werden weiter mit mutigen und kreativen Konzepten daran arbeiten, die Sicherstellung der ambulanten Versorgung zu gewährleisten. Dabei gibt es grundsätzlich keine Denkverbote; vielmehr geht es um maßgeschneiderte Lösungen für die einzelnen Regionen. Diese gilt es in enger Zusammenarbeit mit allen Beteiligten abzustimmen und anzuschieben.

Dr. Volker Schrage: Wir dürfen das Thema Delegation nicht zerreden! Wer sich gar nicht erst auf den Weg macht, kommt auch niemals an. In Westfalen-Lippe haben wir beispielsweise erst vor wenigen Wochen ein Pilotprojekt zum PA, dem Physician Assistant, gestartet. Wir wollen innerhalb von zwei Jahren herausfinden, wie stark PAs Haus- und Facharztpraxen in der ambulanten Versorgung unterstützen können. Für eine vernünftige Delegation ist aber auch eine solide gesetzliche Basis notwendig, dafür werde ich mich weiter einsetzen.

Thomas Müller: Wir wollen auch künftig zeigen, was Digitalisierung für Arztpraxen und Praxisteams leisten kann – wichtig sind uns dabei die Abstimmung mit den Mitgliedern der KVWL einerseits und der Dialog mit Bundesgesundheitsministerium, gematik und Kassenärztlicher Bundesvereinigung andererseits. Unsere Beratungsangebote umfassen Info-Veranstaltungen, digitale Sprechstunden zu Digitalisierungsthemen und innovative Projekte, die die Versorgung verbessern sollen. Mit der „dipraxis“ haben wir zudem eine deutschlandweit einmalige Musterpraxis geschaffen – getreu unserem Motto „Digitalisierung zum Anfassen und Ausprobieren.“ Wir bauen die „dipraxis“ derzeit um, damit sie weiterhin den aktuellsten Stand abbildet. Nach der Wiedereröffnung ist jede und jeder herzlich eingeladen, sich ein eigenes Bild zu machen.

Das Foto zeigt das Hauptgebäude der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe.
Die KVWL habe über ihr Förderverzeichnis im Jahr 2022 rund 2,3 Millionen Euro zur Sicherung der ambulanten Versorgung investiert, sagt ihr Vorstandsvorsitzender Dr. Dirk Spelmeyer. Foto: IMAGO / Cord



4. Welche Bedeutung hat für Sie die ärztliche Selbstverwaltung?

Dr. Dirk Spelmeyer: Sie war noch nie so wichtig wie heute. Punkt. Denn leider hat die Politik unter Gesundheitsminister Karl Lauterbauch genau den falschen Weg eingeschlagen. Es werden Runden von Wissenschaftlern gebildet, die das Gesundheitswesen weiterentwickeln sollen – dabei müssten vielmehr die Stimmen gehört werden, die auch täglich in der medizinischen Versorgung in der Verantwortung stehen. So führen Lauterbachs Wege häufig in eine Sackgasse.

Unsere Aufgabe in der ärztlichen Selbstverwaltung ist es, Vorschläge für eine Weiterentwicklung der ambulanten Patientenversorgung zu machen, damit sich die Patientenversorgung verbessert – aber auch die Arbeitsbedingungen. Hier gilt es, Allianzen mit den Krankenkassen zu schmieden, damit die Vorschläge auch schneller umgesetzt werden können. Dabei wünsche ich mir eine stärkere Kompromissfähigkeit auf beiden Seiten.

 

5. Was wünschen Sie sich von der Politik?

Dr. Dirk Spelmeyer: Der ambulante Sektor ist das Herzstück im deutschen Gesundheitswesen. Die tägliche Arbeit der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen muss stärker wertgeschätzt werden – warme Sonntagsreden, wie besonders in den Hochzeiten der Pandemie, sind nicht ausreichend. Zudem muss endlich ein Verständnis dafür einkehren, dass die Niedergelassenen auch Unternehmer sind. Dementsprechend braucht es hier bessere Rahmenbedingungen, damit Praxen in diesen herausfordernden Zeiten weiter wirtschaftlich arbeiten können. Zudem sollte der stationäre Sektor nicht immer bevorzugt werden wie beispielsweise bei der Digitalisierung durch das Krankenhauszukunftsgesetz.

 



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