Bericht aus Brüssel
22.02.2025
Morning Rounds in Brüssel
Ärzteschaft fordert EU-Strategie gegen Fachkräftemangel

Fachkräfte fehlen in vielen Ländern Europas – auch und insbesondere im Gesundheitswesen. Dabei wird der demografische Wandel das Problem in den nächsten Jahrzehnten weiter verschärfen. Die Ärzteschaft fordert von der Europäischen Kommission deshalb eine EU-Strategie.

Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen ist längst kein isoliertes nationales Problem mehr, sondern betrifft die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten. 21 von 28 EU-Staaten kämpfen bereits mit Engpässen bei Ärztinnen und Ärzten.
Bundesärztekammer (BÄK) und Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) nahmen dies zum Anlass, mit Fachleuten und politischen Vertretern ins Gespräch zu kommen. Bei den „Morning Rounds“ in Brüssel diskutierten sie über Ursachen, Herausforderungen und Lösungsansätze.
Schrumpfende Fachkräftebasis
Wie Dr. Matthias Wismar vom European Observatory on Health Systems and Policies betonte, schrumpfe der Talentpool im Gesundheitswesen zunehmend. Durch den demografischen Wandel steige einerseits die Nachfrage durch eine alternde Bevölkerung, andererseits sinke die Zahl von Gesundheitsfachkräften, die selbst von Alterung betroffen seien. Zusätzlich nehmen Gewalt gegen medizinisches Personal sowie psychische und physische Belastungen zu – beides Faktoren, die das Berufsfeld unattraktiver machten.
Die grüne EU-Abgeordnete Tilly Metz forderte deshalb eine stärkere europäische Kooperation anstelle von Konkurrenzdenken. Einseitige Abwerbung von Fachkräften aus anderen EU-Staaten verschiebe das Problem nur. Zudem gehe es nicht nur um höhere Gehälter, sondern vor allem um bessere Arbeitsbedingungen – ihr Heimatland Luxemburg sei hier ein Beispiel, wo trotz guter Bezahlung Personal fehle. Im Europäischen Parlament herrsche mittlerweile Konsens darüber, dass gesamteuropäische Lösungen gefragt seien.
Ihr Parlamentskollege Dennis Radtke von der CDU pflichtete ihr bei, der Fachkräftemangel sei eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre. Ohne Gegenmaßnahmen könnten der EU bis 2030 rund vier Millionen Arbeitskräfte im Gesundheitswesen fehlen. Auch in der Migrationsdebatte müsse deshalb differenzierter zwischen Arbeitsmigration und der Flüchtlingsfrage getrennt werden.
Der litauische Sozialdemokrat Vytenis Andriukaitis warnte darauf Bezug nehmend vor den politischen Konsequenzen des Fachkräftemangels. Ein schlechter Zugang zur Gesundheitsversorgung führe zu gesellschaftlichem Unmut und könne radikale Parteien stärken. „Wenn vor Ort die Daseinsvorsorge fehlt, werden mehr Menschen populistischen Parteien in die Arme laufen“, so Andriukaitis.

Nutzen und Grenzen digitaler Helfer
Einig war sich das Podium, dass Digitalisierung auch in puncto Fachkräftemangel dabei helfen könnte, Versorgungsprozesse effizienter zu gestalten und Beschäftigte zu entlasten. Der stellvertretende KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Stephan Hofmeister kritisierte aber, dass neue digitale Systeme bislang oft mehr Bürokratie verursachen als sie einsparen.
„Wir brauchen Werkzeuge, die verlässlich funktionieren und auf den tatsächlichen praktischen Bedarf zugeschnitten sind“, so Hofmeister. „Europäische Empfehlungen und Vorgaben, etwa im Rahmen einer europäischen digitalen Patientenakte, sollten daher unbedingt den Sachverstand der Gesundheitsberufe vor Ort einbeziehen.“

BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt betonte, dass neben Digitalisierung auch Ausbildungskapazitäten der Mitgliedstaaten sowie sichere und attraktive Arbeitsbedingungen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels nötig seien. Migration sei zwar ebenfalls ein wichtiges Element, „die Mitgliedstaaten sollten sich aber nicht zu sehr auf die Anwerbung von Arbeitskräften aus anderen Staaten verlassen, sondern ihrer Verantwortung gerecht werden, eine ausreichende Anzahl von Berufsangehörigen auszubilden, um ihren eigenen Bedarf zu decken“, so Reinhardt.
Die Aufzeichnung der Veranstaltung „Morning Rounds 2025: Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich – Lösungsansätze aus Europa“ finden Sie auf der Website der KBV.
Zusammen forderten KBV und BÄK die Europäische Kommission deshalb auf, eine europäische Strategie für Arbeitskräfte im Gesundheitswesen zu entwickeln. Die Ankündigungen der neuen EU-Kommission ließen einen solchen umfassenden Ansatz bisher vermissen. Die Fachkräftesituation im Gesundheitswesen erfordere entschlossenes Handeln sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Während kurzfristige Maßnahmen wie Migration nötig seien, müsse langfristig in Ausbildung, Arbeitsbedingungen und innovative Versorgungsmodelle investiert werden. Nur so könne EU-weit eine stabile Gesundheitsversorgung gesichert werden.
Hendrik Schmitz