01.06.2023

Das große Ganze nicht im Blick

Das Foto zeigt einen Mann, der in das Schaufenster eines sogenannten Gesundheitskiosks blickt.
Schlechte Aussichten für die medizinische Versorgung in Deutschland? Hier blickt ein Mann bei der Eröffnung im November 2022 in den ersten Thüringer Gesundheitskiosk. Foto: IMAGO/ari

Auch wenn der Vergleich inzwischen abgeschmackt ist: Deutschlands Gesundheitswesen ist lange schon selbst zum Patienten geworden und bedarf einer umfassenden Therapie. Mangelhafte Digitalisierung, Arztzeitmangel, Nachwuchssorgen und eine reformbedürftige Notfallversorgung sind nur einige der bestens bekannten Symptome. Welche Eingriffe sind von der Gesundheitspolitik zu erwarten?

 

Der alte und neue Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. Klaus Reinhardt, hat es auf dem 127. Deutschen Ärztetag in Essen klar formuliert: „Wir brauchen einen echten Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik.“ Die Probleme im Gesundheitswesen seien für die Gesellschaft ebenso bedeutend wie etwa der Klimawandel. Deshalb streite er dafür, dass das Thema Gesundheit ebenso zukunftsweisend diskutiert werde wie das Thema Klima, so der BÄK-Chef. Seiner Ansicht nach verkennt die Politik dies bislang noch. Reinhardt: „Was da zum Teil an Lösungsansätzen in der Politik diskutiert wird, ist abenteuerlich bis absurd.“

Die Notfallversorgung muss reformiert werden. Ein Kernelement ist dabei eine bessere Patientensteuerung. Foto: iStock/huettenhoelscher

In der Vertragsärzte- und -psychotherapeutenschaft gibt man sich ebenfalls nicht allzu großen Hoffnungen hin. „Die Gesundheitspolitik bietet aus Sicht der ambulanten Versorgung derzeit wenig Anlass zur Zuversicht“, konstatiert Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Eine neue Versorgungsarchitektur solle künftig die Versorgung der Menschen sichern. Im Fall der medizinischen Versorgung bestehe diese „Architektur“ dann zum Beispiel aus sogenannten Gesundheitskiosken, Primärversorgungszentren und Community Health Nurses.

Gassen: „Tausende Ärztinnen und Ärzte werden in den kommenden Jahren ihre Praxis aufgeben, viele davon ohne eine Nachfolge zu finden. Und welche Lösung schlägt die Politik vor? Sie will minderwertige Ersatzangebote schaffen, um die Lücken zu füllen. Wenn die Menschen keinen Termin in einer Arztpraxis mehr bekommen, gehen sie zum Kiosk. Klingt das nach einem sinnvollen Fortschritt?“

 

Bald nur noch „Versorgung light“?

Der stellvertretende KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Stephan Hofmeister moniert, dass die aktuelle Linie des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) eher danach klinge, als sei ärztliche Versorgung ein verzichtbarer Luxus, vor allem in der Grundversorgung. „Dort scheint man zu meinen: Wozu brauchen wir noch Ärztinnen und Ärzte, wenn es in Apotheken ,Versorgung to goʻ gibt mit Impfen und Blutdruckkontrolle und in Gesundheitskiosken ,Versorgung lightʻ mit medizinischer Beratung zu was auch immer?“ Professor Karl Lauterbach hält der KBV-Vize vor, genau das Gegenteil von dem zu erreichen, was er sich als Bundesgesundheitsminister auf die Fahne geschrieben hat: „Mit solchen Plänen schaffen Sie erst den Weg in eine echte Zwei-Klassen-Medizin!“

Das Foto zeigt eine Apothekerin, die bei einem Mann den Blutdruck misst.
KBV-Vize Hofmeister befürchtet, dass das BMG auf ärztliche Grundversorgung verzichten und es stattdessen in Apotheken künftig eine „Versorgung to go“ mit Impfen und Blutdruckkontrolle geben könnte. Foto: iStock/nortonrsx

Primary care nach anglo-amerikanischem Vorbild sei keine Lösung für Deutschland, ergänzt Hofmeister und warnt vor einem Weg, wie ihn Großbritannien beschreitet: „Dort ist geplant, dass Apotheken künftig noch mehr Medikamente ohne ärztliche Verschreibung an Patientinnen und Patienten ausgeben dürfen, darunter die Pille zur Verhütung und Antibiotika.“ Patientinnen und Patienten sollten demnach künftig selbst entscheiden, ob sie beispielsweise an einer lediglich unkomplizierten Harnwegsinfektion litten, die dann eine Verschreibung durch Apotheker erlauben würde.

Die Regierung in London möchte auf diese Weise in den kommenden zwei Jahren die Zahl der Arztbesuche reduzieren – und zwar um etwa 15 Millionen. Damit soll das Wartezeitenproblem im National Health Service (NHS) entschärft werden. Nicht nur Ärztevertreter zweifeln an diesen Plänen. „Großbritannien hat sicher besondere Probleme“, sagt Hofmeister. „Aber dass das BMG hierzulande auch den Eindruck erweckt, dass ausgerechnet wir in Deutschland uns eine ,arztgeführteʻ Primärversorgung nicht mehr leisten können, das ist geradezu zynisch.“  

 

Vernünftige Rahmensetzung fehlt

Zuweilen entsteht der Eindruck, dass für manchen politischen Protagonisten das System der Selbstverwaltung und der ärztlichen Freiberuflichkeit eher störend ist. Oder liegt es schlicht an fehlendem Einblick? „Wer die Interessensvertreter der Ärzteschaft und die Ärztekammern, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, als Lobbyisten verkennt, hat unser Gesundheitssystem und die wichtige Rolle der Selbstverwaltung in diesem System einfach nicht verstanden“, betonte Dr. Günther Matheis, Präsident der Ärztekammer Rheinland-Pfalz, auf dem Ärztetag in Essen.

Der Facharzt für Thoraxchirurgie aus Trier erinnerte daran, dass bereits die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) 2006 von „Lobbygeschrei“ gesprochen habe. Schon damals habe es geheißen: Schluss mit der Ideologie der Freiberuflichkeit. Man wolle sie abschaffen, „weil sie bei der Medizin unter staatlicher Einflussnahme nur stört“. Dabei ist für Matheis unumstößlich: „Staatsmedizin und ärztliche Freiberuflichkeit sind nicht vereinbar.“

„Augenscheinlich ist die Gesundheitspolitik derzeit nicht in der Lage, vernünftige Rahmen zu setzen“, sagt KBV-Chef Gassen. Foto: Lopata/axentis.de

Auch KBV-Chef Gassen sieht ein grundsätzliches Problem: „Es ist schon ein eigenartiges demokratisches Grundverständnis, den Menschen immer mehr vorschreiben zu wollen, was sie dürfen oder nicht. Individuelle Freiheiten stehen auf jeden Fall bei dieser Ampel-Regierung nicht mehr hoch im Kurs.“ Politik zu ideologisieren habe noch niemals zum Erfolg geführt.

„Augenscheinlich ist die Gesundheitspolitik derzeit nicht in der Lage, vernünftige Rahmen zu setzen“, attestiert Gassen. Stattdessen werde versucht, eine ganze Gruppe hochqualifizierter Akademikerinnen und Akademiker über Zwänge in ein Korsett zu binden – das könne nicht funktionieren. Gassen: „So verlieren wir eine ganze Medizinergeneration, die wir mehr als dringend brauchen.“

 

Reform-Plan nicht zu Ende gedacht

Ein konkretes Beispiel für die zahlreichen Baustellen im Gesundheitswesen ist die Notfallreform – bisher jedoch mit eher ernüchternder Fortentwicklung. „Was gar nicht hilft, sondern im Gegenteil die Versorgung deutlich schwächen würde, sind die Pläne der Regierungskommission für die Notfallversorgung. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass kein einziger Praktiker aus der ambulanten Versorgung in dieser Kommission mit am Tisch gesessen hat, dann ist dieser Beweis spätestens mit dem Vorschlag zur Besetzung der Bereitschaftspraxen erbracht“, sagt Hofmeister. Geplant ist demnach unter anderem, dass die Bereitschaftspraxen in den Integrierten Notfallzentren (INZ) an allen Kliniken der höchsten Notfallstufe 3 rund um die Uhr geöffnet sind.

„Das BMG erweckt hierzulande den Eindruck, dass ausgerechnet wir in Deutschland uns eine ,arztgeführteʻ Primärversorgung nicht mehr leisten können, das ist geradezu zynisch“, so Hofmeister. Foto: Lopata/axentis.de

Nach Berechnung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) würde die Umsetzung dieser sowie weiterer Kommissionsvorschläge bedeuten, dass rund vier Millionen Patientenkontakte jährlich in der Regelversorgung wegfielen. Zudem würden einige Patientinnen und Patienten aus Ratlosigkeit dann wiederum verstärkt die Notaufnahme aufsuchen, was dort nach Zi-Berechnungen zu einer Million zusätzlicher Besuche führen würde.

Hofmeister: „Statt also die ambulante Regelversorgung zu stärken und die Notaufnahmen zu entlasten, hätte man das Gegenteil erreicht. Dieses Beispiel zeigt, dass viele Reformvorschläge der von Minister Lauterbach rekrutierten Experten einfach nicht zu Ende gedacht sind. Und warum ist das so? Weil sie zu oft nur einen Ausschnitt des Versorgungsgeschehens betrachten statt das große Ganze.“

Thomas Schmitt