09.09.2022

Niedergelassene warnen vor Aus für Neupatientenregelung

„Es geht um den Erhalt der ambulanten Struktur“

KBV-Chef Dr. Andreas Gassen und BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt (r.) bei der Sondersitzung der Mitglieder der KBV-Vertreterversammlung und der Vorstände und VV-Vorsitzenden der (KVen) in Berlin. Foto: KBV/Lukas Brockfeld

Pandemie, Impfkampagne, Telematikinfrastruktur, Personalmangel, Budgetierung, Bürokratie: Vertragsärzte und -ärztinnen sowie -psychotherapeuten und -psychotherapeutinnen haben bereits mit vielen Schwierigkeiten im Praxisalltag zu kämpfen. Dass Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach nun per Gesetz die 2019 eingeführte Neupatientenregelung kippen will, sorgt erst recht für Verärgerung. Die Niedergelassenen treten dem Vorhaben des Sozialdemokraten entgegen.

 

Die Abschaffung der Neupatientenregelung, und damit der vollständigen Finanzierung der entsprechenden Behandlungen, passt nicht zu dem Versprechen von Bundesgesundheitsminister Lauterbach, es werde keine Leistungskürzungen für Patienten durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz geben“, sagte Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), in einer Sondersitzung der Mitglieder der KBV-Vertreterversammlung (VV) und der Vorstände und VV-Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen). Tatsächlich sei es sogar noch ärger: „Die gesetzlich Krankenversicherten werden höhere Beiträge zu zahlen haben und gleichzeitig Abstriche beim Versorgungsangebot hinnehmen müssen. Es ist an der Zeit, dass Politik hier mit offenen Karten spielt. Das ist das Mindeste, was sie den Bürgerinnen und Bürgern in dieser ohnehin für viele sehr schwierigen Zeit schuldig ist.“

KBV-Vorstandsvorsitzender Dr. Andreas Gassen: „Wenn Minister Lauterbach sagt, es werde keine Leistungskürzungen geben, dann trifft das nicht zu.“ Foto: KBV/Lukas Brockfeld

Der KBV-Chef warnte: „Wir sehen eine Gefahr für die Versorgung der Menschen, wenn gewisse Rahmenbedingungen, die nur die Politik gewährleisten kann, nicht stabil bleiben. Dazu gehören auch wirtschaftliche Rahmenbedingungen.“ Wenn Praxisinhaberinnen und Praxisinhaber nicht mehr planen könnten, weil sie keine Verlässlichkeit haben, dann habe das am Ende Auswirkungen auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten. Gassen: „Wenn Minister Lauterbach sagt, es werde keine Leistungskürzungen geben, dann trifft das nicht zu, weil die Praxen unter den herrschenden beziehungsweise absehbaren Bedingungen ihr bisheriges Angebot schlichtweg nicht werden aufrechterhalten können.“

 

Offener Brief an Lauterbach

In einem offenen Brief von KBV und KVen gegen die Abschaffung der Neupatientenregelung wehren sich die Niedergelassenen – aus Sorge um die ambulante Versorgung. Es gehe um die Frage, welchen „Wert“ – wortwörtlich wie im übertragenen Sinne – die gesundheitliche Versorgung der Menschen hierzulande habe und um die Frage, ob und wie Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten befähigt würden, diese Versorgung aufrechtzuerhalten, erklärte Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender KBV-Vorstandsvorsitzender: „Es geht um den Erhalt der Struktur der ambulanten ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung! Die Diskussion um die Neupatientenregelung ist dabei nur ein Kulminationspunkt oder der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.“

„Wir stehen an einem Punkt, an dem dieses ambulante System auf der Kippe steht“, warnte KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister.
Foto: KBV/Lukas Brockfeld

Für die allermeisten Praxen landauf und landab gelte: „Sie versuchen seit Jahren mit ihren Teams bestmöglich ihre Arbeit zu machen und für ihre Patientinnen und Patienten da zu sein – trotz aller Knüppel, die ihnen immer wieder zwischen die Beine geworfen werden. Das hohe ärztliche Berufsethos und das Verantwortungsgefühl für die Patienten, die sich uns anvertrauen, lässt uns scheinbar keine andere Wahl“, so der KBV-Vize. Jetzt sei man an einem Punkt, an dem die ambulanten Praxen mit ihren Teams ganz klar sagen: „Es geht nicht mehr. Und das werden auch die Patienten spüren. Wir stehen an einem Punkt, an dem dieses ambulante System, um das uns die Welt beneidet und ohne das wir nicht so durch die Pandemie gekommen wären, auf der Kippe steht.“

 

BÄK solidarisch mit Niedergelassenen

Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), machte deutlich, dass sich die BÄK solidarisch mit den Niedergelassenen zeige: „Wir teilen diesen Weg und werden Sie unterstützen.“ Der BÄK-Chef bekundete, dass er sehr früh den Brief der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte an den Bundesgesundheitsminister unterschrieben habe. Reinhardt unterstrich die Bedeutung von „Verlässlichkeit“, die er bei Lauterbach vermisse. „Was Verlässlichkeit bedeutet, haben die Ärztinnen und Ärzte in der ambulanten Versorgung gerade in den vergangenen zweieinhalb Jahren bewiesen“, erinnerte er an die Rolle der Praxen bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Er verwies auch darauf, wie verlässlich die ärztliche Selbstverwaltung seit Jahrzehnten sei.

„Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz ist kein durchdachtes, schlüssiges Konzept. Es ist ein reines Spargesetz – mehr nicht“, kritisierte Reinhardt Lauterbachs Pläne. In Anbetracht der enormen Herausforderungen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müsse sich der Staat darauf konzentrieren, systemrelevante Strukturen zu erhalten und zu stärken, zu denen das Gesundheitswesen ohne jeden Zweifel gehöre. „Wer hier sinnvolle Strukturen kassieren will, lässt uns alle einen sehr hohen Preis zahlen. Deshalb appelliere ich an die verantwortlichen Politiker: Ersparen Sie uns sinnlose Rotstiftpolitik. Wenn Sie schon sparen, dann bitte nicht an kreativen Gedanken und sinnvollen Konzepten“, forderte der BÄK-Präsident.

 

Mehr Nachfrage bei Psychotherapie

„Corona-Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Krieg führen zu einer steigenden Nachfrage nach ambulanter Psychotherapie. Die Streichung der Neupatientenregelung, durch die der aufwendige Behandlungsbeginn finanziert wird, führt zu einer deutlichen Verschlechterung der ambulanten Gesundheitsversorgung“, kritisierte Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV), der als Vertreter der Psychologischen Psychotherapeuten und Pychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und psychotherapeutinnen ein Statement abgab. Die Neupatientenregelung, die mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz abgeschafft werden soll, wurde erst 2019 eingeführt. „Minister Lauterbach behauptet, die Neupatientenregelung habe ,nichts gebracht‘. Eine Erhebung des Zentralinstitutes für die Kassenärztliche Versorgung zeigt jedoch ein anderes Bild“, konstatierte Hentschel.

Demnach sei die Anzahl der Neupatienten und -patientinnen in vertragsärztlichen und -psychotherapeutischen Praxen im vierten Quartal 2021 gegenüber dem vierten Quartal 2019 um zwölf Prozent angestiegen. „Die zweithöchste Steigerungsrate im Fachgruppenvergleich liegt bei den Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen. Sie steigerten die Fallzahlen in den zwei untersuchten Jahren um 18,4 Prozent. Wir können es uns nicht leisten, diesen Anteil an Patienten und Patientinnen unversorgt zu lassen“, so der DPtV-Chef.

 

Der stellvertretende Vorsitzende der KV Niedersachsen, Dr. Jörg Berling, kritisierte das Vorhaben von Bundesgesundheitsminister Lauterbach, die Neupatientenregelung zu streichen. Foto: KBV/Lukas Brockfeld

Hoher Anteil Neuerkrankter

Analysen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) haben bereits gezeigt, dass im vierten Quartal 2021 rund 20 Millionen gesetzlich Krankenversicherte als Neupatienten und -patientinnen in einer Vertragsarztpraxis behandelt worden sind. Als Neupatienten und -patientinnen gelten gesetzlich Versicherte, die mindestens zwei Jahre (acht Quartale) lang nicht in Behandlung der jeweiligen Praxis waren. In einer weiteren Untersuchung ist das Zi der Frage nachgegangen, für welche Patienten und Patientinnen und welche Praxen die Neupatientenregelung besonders wichtig sein könnte. Neben einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufs, die eine zusätzliche Diagnostik oder Behandlung erforderlich machen kann, steht dabei insbesondere die Gruppe der Patienten und Patientinnen im Fokus, die wegen einer neu diagnostizierten Krankheit als Neupatienten und -patientinnen versorgt worden sind.

Anteil neu erkrankter Patient:innen an allen Neupatient:innen im 4. Quartal 2021 (differenziert nach Fachrichtungen).
Grafik: Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi)

 

Das Zi kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei 82 Prozent aller neu Versorgten um neu erkrankte Patienten und Patientinnen handelt. Je nach Fachrichtung der Praxen ergeben sich aufgrund des unterschiedlichen Behandlungsspektrums auch unterschiedliche Anteile an Neuerkrankten unter den Neupatienten und -patientinnen. So beträgt deren Anteil in der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde 88 Prozent (Maximum), in der Anästhesiologie 64 Prozent (Minimum). Weitergehende Analysen lassen es zu, auch einzelne Behandlungsursachen zu untersuchen.

Die Aufzeichnung der Sondersitzung der Mitglieder der KBV-VV und der Vorstände und VV-Vorsitzenden der KVen können Sie hier verfolgen.

„Die Ergebnisse zeigen sehr eindrücklich, welche Gruppen von Patientinnen und Patienten in den Praxen der einzelnen Fachrichtungen von der Neupatientenregelung begünstigt werden: Es sind vor allem Neuerkranke, die eine zeitnahe medizinische Behandlung benötigen. Eine Abschaffung der Regelung kann nicht im Interesse der ärztlichen Versorgung dieser Patientengruppe liegen“, sagte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried.

Thomas Schmitt

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