28.11.2023

Praxenkollaps

Das ambulante Gesundheitssystem in Gefahr

Das Foto zeigt die KBV-Mitglieder mit Protestplakten bei ihrer Krisensitzung.
"Praxis weg. Gesundheit weg": Die Warnungen auf der KBV-Krisensitzung waren mehr als deutlich. Foto: KBV / Lukas Brockfeld

Mangelnde Finanzierung, schlecht gemachte Digitalisierung, frustrierende Bürokratie: Mitte August lud die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zu einer Krisensitzung der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft. Seitdem protestieren Niedergelassene bundesweit für bessere Arbeitsbedingungen und den Erhalt des ambulanten Systems.

 

Der 18. August 2023 markiert eine Zäsur im deutschen Gesundheitswesen: Rund 800 Vertreterinnen und Vertreter der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft aus ganz Deutschland versammelten sich in Berlin, um gegen den drohenden Praxenkollaps zu protestieren. Einhelliger Tenor: Es ist fünf vor zwölf! Wenn sich nicht bald etwas ändert, steht nicht weniger als die flächendeckende, wohnortnahe und qualitativ hochwertige ambulante Versorgung auf dem Spiel.

Doch wo genau drückt der Schuh? Es geht um Unterfinanzierung, unbefriedigende Digitalanwendungen und nicht eingehaltene Versprechen der Politik. Mehr noch: „Budgets auf der einen und Rund-um-die-Uhr-Leistungsversprechen auf der anderen Seite passen einfach nicht zusammen“, sagt der stellvertretende KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Stephan Hofmeister. „Apropos Versprechen: Auch die Ambulantisierung und ein Bürokratieabbaupaket hatte die Bundesregierung vollmundig angekündigt – zu sehen ist davon bisher rein gar nichts.“

Ihren Ärger und die Sorge vor dem Zusammenbrechen des Systems gossen die Anwesenden in einen Forderungskatalog mit klarem Adressstempel: den Verantwortlichen in der Bundesregierung, den Ministerien und dem Bundestag.

Bewegt sich etwas?

Es ist einiges passiert seit jenem Berliner Sommertag: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat zwei Digitalgesetze in den Bundestag eingebracht, ein Eckpunktepapier zum Bürokratieabbau im Gesundheitswesen liegt auf dem Tisch. Während zunächst eine konkrete Reaktion des Ministers auf den Forderungskatalog ausblieb, fand Anfang November schließlich eine erste Annäherung statt: Der KBV-Vorstand wurde zu einem gemeinsamen Gespräch in das Gesundheitsministerium eingeladen.

Das Foto zeigt Bundesgesundheitsminister Lauterbach im Gespräch mit dem KBV-Vorstand.
"Die Bedingungen für Praxisärzte müssen besser werden": Bundesgesundheitsminister Lauterbach im Gespräch mit dem KBV-Vorstand. Credit: BMG

Man sei „nicht in jedem Punkt einer Meinung, aber einiges greifen wir auf. Die Bedingungen für Praxisärzte müssen besser werden“, ließ der Minister nach dem Gespräch auf X (vormals Twitter) verlautbaren. Laut KBV-Vorstandsvorsitzendem Dr. Andreas Gassen habe Lauterbach „deutliche Bereitschaft signalisiert, auf unsere Forderungen zuzugehen und uns hier weiträumig entgegenzukommen“.

Zu den Ankündigungen Lauterbachs gehört die Entbudgetierung der hausärztlichen Versorgung, die sich bereits in Umsetzung befinde. Beim Thema Regresse will er sich bei den Punkten Geringfügigkeitsgrenzen und Differenzkostenmethode auf die KBV zubewegen. Zugesagt hat er ferner, über die Streichung der Sanktionen und Bußgeldvorschriften im Zusammenhang mit der Digitalisierung nochmals nachdenken zu wollen. Außerdem sollen durch die Digitalisierung die Prozesse in den Praxen vereinfacht und dazu entsprechende Standards für Softwarehersteller verbindlich eingeführt werden.

Doch allen Ankündigungen zum Trotz, eine gewisse Skepsis bleibt: „Wir erwarten einen klar erkennbaren Fahrplan“, so Gassen. „Den Worten müssen nun Taten folgen.“ Er kündigte an, „sehr engmaschig nachfassen“ zu wollen. „Nachfassen“ ist laut KBV-Chef auch beim Thema Bürokratieabbau angebracht. Das entsprechende Eckpunktepapier sei zu unpräzise formuliert und „ein bunter Strauß an Dingen, die durchaus interessant sein können“, die von der KBV allerdings bereits deutlich detailtiefer vorgeschlagen worden wären.

Der Protest geht weiter

Der Minister scheint also sein blindes ambulantes Auge zumindest ein wenig geöffnet zu haben; für KBV und Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) allerdings noch kein Grund, in Sachen Protest den Fuß vom Gas zu nehmen. Neben diversen Protestmaßnahmen in den KV-Regionen stampfte man mit www.praxenkollaps.info etwa eine Aktionsseite aus dem Boden, mit der Bürgerinnen und Bürger ihre Bundestagsabgeordneten suchen und per Mail auf den drohenden Zusammenbruch der ambulanten Versorgung aufmerksam machen können.

Es geht also weiterhin darum, ein Bewusstsein für die Situation in den Praxen zu schaffen – sowohl bei Politikerinnen und Politikern als auch bei Patientinnen und Patienten. Denn: „Schlussendlich werden es Letztere sein, die von Ärztemangel, Praxisschließungen, Unterversorgung und langen Wartezeiten betroffen sein werden“, warnt Hofmeister.

Die Protestaktionen der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft richten sich vor allem an die Politik – und damit auch an den Bundestag. Foto: Adobe Stock / Todor Dinchev

„Letztlich geht es um die Menschen in unserem Land, die es gewohnt sind, von ,ihrer Ärztin‘ oder ,ihrem Psychotherapeuten‘ vor Ort behandelt zu werden“, ergänzt KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner. „Rund 580 Millionen Behandlungsfälle jährlich sind eine stolze Zahl. Doch dahinter stecken jeweils individuelle Schicksale, denen sich die Teams in den Praxen jeden Tag aufs Neue annehmen.“ Deshalb werbe man auch in den Praxen direkt um Unterstützung bei der Patientenschaft.

Die erhofft die KBV sich ebenso für eine Bundestagspetition, die sowohl im Wartezimmer als auch online auf der Bundestagswebsite bis zum 20. Dezember unterzeichnet werden kann. Es werden mindestens 50.000 Unterschriften benötigt, um im zuständigen Ausschuss des Bundestages das Anliegen persönlich vortragen zu können.

Um ein konkretes Stimmungsbild aus den Praxen zu bekommen, wurde jüngst außerdem eine Umfrage unter Niedergelassenen gestartet. In Kooperation mit dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung möchte die KBV zum einen wissen, wie die Praxen derzeit ihren Alltag erleben und wie sie ihre berufliche und wirtschaftliche Situation bewerten. Zum anderen geht es um die grundsätzliche Frage, welche Rahmenbedingungen die Praxen brauchen, um ihre Patientinnen und Patienten angemessen versorgen zu können.

In einem außergewöhnlichen Schulterschluss setzten Martin Hendges (links), Dr. Andreas Gassen (Mitte) und Gabriele Regina Overwiening (rechts) vor der Bundespressekonferenz einen "Notruf der freien Heilberufe" ab.
Foto: IMAGO / Metodi Popow

Schulterschluss der freien Berufe

Gute Rahmenbedingungen brauchen aber nicht nur die Vertragsärztinnen und -ärzte sowie Vertragspsychotherapeutinnen und -therapeuten. Das gesamte ambulante System in Deutschland kränkelt unter ausbleibenden, dringend benötigten Reformen. Das zeigte sich auch bei einer gemeinsamen Pressekonferenz der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) und der KBV.

Per Schulterschluss brachte dort die Ärzte-, Zahnärzte-, Psychotherapeuten- und Apothekerschaft ihren Unmut über die derzeitige Politik zum Ausdruck. Denn so sehr sich die Heilberufler-Verbände inhaltlich manchmal uneinig sind, im Kern geht es ihnen um dasselbe Ziel: den Erhalt der hochwertigen ambulanten Versorgung in diesem Land.

„Uns als Expertinnen und Experten vor Ort wird es immer schwerer gemacht, eine sichere, wohnortnahe Versorgung über Arztpraxen, Zahnarztpraxen und Apotheken sicherzustellen“, sagte ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening vor der Bundespressekonferenz. „Patientinnen und Patienten sind deshalb ebenso beunruhigt wie wir Heilberufe und unsere Teams.“

Der außergewöhnliche Hilferuf zeigt: Es geht um mehr als den Aufschrei dreier Verbände. Hinter ihm stehen 185.000 Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten, 73.000 Zahnärztinnen und Zahnärzte und 17.800 Apotheken, die sich tagtäglich für die Gesundheit ihrer Patientinnen und Patienten einsetzen. Das machte das Dreiergespann auch in einem gemeinsamen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz deutlich – mit dem Appell, „dieser Entwicklung und einer weiteren Verunsicherung der Bevölkerung entgegenzuwirken“.

Und schon auf der Krisensitzung im August sagte KBV-Vize Hofmeister: „Spätestens jetzt muss den politisch Verantwortlichen endlich klar werden, dass wir hier keine ‚Funktionärsdebatten‘ führen, sondern dass es wirklich um die Substanz der ambulanten Versorgung in Deutschland geht.“ Substanziell muss also auch der Einsatz der Politik sein, um den Kollaps des ambulanten Systems noch zu verhindern.

 

Hendrik Schmitz