19.07.2023

Gesundheit anderswo

Vereinigtes Königreich: Staatliche Gesundheitsversorgung in der Krise

Das Foto zeigt London und die Themse im Nebel. Im Vordergrund weht der britische Union Jack.
Dunkle Wolken über London: Der NHS befindet sich in einer historischen Krise. Foto: Adobe Stock / Melinda Nagy

75 Jahre National Health Service (NHS) – doch zum Feiern ist den Briten nicht zumute. Eine jahrelange Sparpolitik, der Brexit und die Corona-Pandemie stürzten das staatlich gelenkte Gesundheitssystem in eine historische Krise.

 

Das britische Gesundheitssystem basiert auf dem „Beveridge-Modell“: Das nach dem britischen Politiker und Ökonomen William Henry Beveridge benannte Konzept soll allen Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrer Bedürftigkeit einen gleichen und kostenfreien Zugang zur medizinischen Versorgung garantieren. Dabei unterliegt die Gesundheitsversorgung der staatlichen Regulierung und wird hauptsächlich über Steuern finanziert. Nur ein kleiner Teil des Geldes stammt aus Sozialversicherungsbeiträgen.

Die medizinische Basisversorgung wird durch den in England, Schottland, Wales und Nordirland jeweils eigenständigen National Health Service gewährleistet. Die Behandlungen sind für die Patientinnen und Patienten in der Regel kostenlos. Für einige Leistungen wie zahnärztliche Behandlungen oder die Versorgung mit Arzneimitteln fallen jedoch Zuzahlungen an.

Welche Leistungen durch den NHS finanziert werden und welche nicht, ist anders als in Deutschland nicht in einem konkreten Leistungskatalog festgelegt. Im Gesetz heißt es nur, dass zur Verfügung gestellt werden soll, was erforderlich ist, „um alle begründeten Anforderungen zu befriedigen“. Hierfür verhandeln das Finanz- und das Gesundheitsministerium ein Budget sowie zu erreichende gesundheitspolitische Ziele für die jeweilige Finanzierungsperiode von drei Jahren.

Das Foto zeigt den Eingangsbereich der Notaufnahme des St Thomas' Hospital in London.
Das St Thomas' Hospital in London gehört zu den ältesten Krankenhäusern der Welt und wurde erstmals im Jahr 1215 erwähnt. Foto: Adobe Stock / chrisdorney

Beschränkte Wahl bei Haus- und Fachärzten

In Großbritannien herrscht das sogenannte Gatekeeper-Prinzip: Patientinnen und Patienten schreiben sich in das Register einer Hausärztin oder eines Hausarztes (General Practitioner, GP) ein. Dieser ist damit die erste Anlaufstelle im Krankheitsfall und überweist sie weiter an Fachärzte. Auch zu Krankenhäusern haben Patientinnen und Patienten – außer im Notfall – keinen direkten Zugang. Sie werden also vom GP durch den NHS gelenkt; die freie Arztwahl ist dabei sehr eingeschränkt.

Die GP sind meist in Gruppenpraxen auf vertragsärztlicher Basis für den NHS tätig. Zusammen mit Zahn- und Augenärzten bilden sie den Family Health Service und arbeiten eng mit dem Community Health Service zusammen. Dieser bietet ergänzende Dienstleistungen unter anderem durch Gemeindeschwestern, Hebammen, Krankenpflegepersonal und den schulärztlichen Dienst. Er wird vor allem von kommunalen Krankenhäusern und Gesundheitsdiensten bereitgestellt.

Ein NHS Walk-in Centre im Osten Londons. Foto: Adobe Stock / pxl.store

Family Health Service und Community Health Service bilden zusammen die primärärztliche Versorgung (primary care). Zu ihrer Entlastung werden kleinere Erkrankungen und Verletzungen auch in den NHS Walk-in Centres behandelt, die von speziell ausgebildetem Krankenpflegepersonal geleitet werden. Die nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe sind damit wichtige Leistungserbringer in der Versorgung. Nichtsdestotrotz müssen sich Patientinnen und Patienten vor allem bei planbaren Terminen und Eingriffen auf lange Wartezeiten einstellen, da der NHS als chronisch unterfinanziert gilt. Millionen Britinnen und Briten warten augenblicklich auf Operationen und andere Behandlungen.

Wird eine Fachärztin oder ein Facharzt benötigt, muss man sich dafür in den meisten Fällen in ein Krankenhaus begeben, denn fachärztliche Leistungen konzentrieren sich im stationären Sektor. Die hausärztliche und die fachärztliche Versorgung Großbritanniens sind klar voneinander getrennt, doch die Grenzen werden mittlerweile durchlässiger: So können qualifizierte Hausärztinnen und -ärzte kleinere Operationen ambulant durchführen und immer mehr Krankenhäuser lagern einfache, stark standardisierte OPs in ambulante Tages- und Polikliniken aus, die sogenannten Treatment Centres. Diese können auch in privater Hand sein.

NICE empfiehlt

Die Bewertung geeigneter Leistungen für den NHS erfolgt durch das NICE (National Institute for Health and Clinical Excellence). Seine Aufgabe ist es, klinische Standards zur Ausrichtung der Versorgung nach den Erkenntnissen der evidenzbasierten Medizin zu schaffen. Weiterhin stellt es Informationen über Diagnose- und Therapieverfahren bereit und bewertet diese hinsichtlich Sicherheit und Effektivität.

Auf dieser Grundlage gibt es Empfehlungen ab, welche Leistungen der medizinischen Versorgung durch den NHS finanziert werden sollten und was sie kosten dürfen. Als Maßstab dafür greift es auf die sogenannten QALYs (quality adjusted life years) zurück. Ein QALY entspricht einem Lebensjahr in „guter Lebensqualität“, das durch die entsprechende medizinische Leistung erwirkt und ins Verhältnis zu seinem Preis gesetzt wird.

Diese sehr rationale Methode wird in der britischen Öffentlichkeit häufig als unbarmherzig kritisiert, weil in Großbritannien vieles, was medizinisch machbar wäre, nicht bezahlt wird. Um vom NHS nicht finanzierte Leistungen in Anspruch nehmen zu können, Wartezeiten zu verkürzen sowie Ärzte und Krankenhäuser frei wählen zu können, haben viele Briten eine private Zusatzversicherung abgeschlossen.

Strikte Sparpolitik

Nach der Weltwirtschaftskrise von 2008 setzte die konservative britische Regierung auf einen strikten Sparkurs. Auch der NHS sollte mit Reformen wie dem „Health and Social Care Act“ aus dem Jahr 2012 günstiger und effizienter werden. Premierminister David Cameron kündigte 2011 an, die jährlichen Gesundheitsausgaben bis 2015 um umgerechnet 18 Milliarden Euro zu reduzieren. Zahlreiche Änderungen sollten das Gesundheitssystem dezentraler und wettbewerbsorientierter machen und damit mehr Wirtschaftlichkeit und kürzere Wartezeiten bewirken.

Grafik: KloseDetering, Freepik

2019 nahm die Regierung von Theresa May mit dem „NHS Long Term Plan“ wieder Abschied von dem Wettbewerbsideal und kündigte eine schrittweise Erhöhung der öffentlichen Gesundheitsausgaben an. Für viele Jahre flossen weniger als zehn Prozent des britischen Bruttoinlandsprodukts in die Gesundheitsversorgung. 2016 waren es beispielsweise neun Prozent, Deutschland investierte im selben Jahr 11,3 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in das Gesundheitswesen.

Das Personal war in Folge des Sparkurses mit sinkenden Reallöhnen und sich verschlechternden Arbeitsbedingungen konfrontiert. Eine Karriere im NHS wurde immer unattraktiver. Inzwischen kämpft das britische Gesundheitswesen mit einem erheblichen Personalmangel. 2019 waren etwa 100.000 Stellen im NHS unbesetzt, etwa 10.000 Ärztinnen und Ärzte fehlten. Auch die Zahl der Krankenhausbetten wurde immer weiter gesenkt, um Geld zu sparen und die Effizienz des NHS zu steigern. 2021 hatte das Vereinigte Königreich nur noch 2,3 Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner, einen der niedrigsten Werte unter den OECD-Staaten. In Deutschland kamen im selben Jahr 7,8 Betten auf 1.000 Bürgerinnen und Bürger.

Fachkräftemangel durch Brexit

Das Brexit-Referendum und der EU-Austritt im Februar 2020 haben das Personalproblem nach Einschätzung vieler Expertinnen und Experten weiter verschärft. Arbeitskräfte aus dem europäischen Ausland spielen seit Jahren eine wichtige Rolle im britischen Gesundheitswesen. 2021 arbeiteten 37.035 Ärztinnen und Ärzte aus der EU und dem übrigen Schengen-Raum auf der Insel. Mit dem Brexit entfiel die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit und es wurde schwieriger, in das Vereinigte Königreich einzuwandern. Gegnerinnen und Gegner des EU-Austritts führen immer wieder an, dass auch die teils fremdenfeindliche Rhetorik der Brexit-Kampagne viele ausländische Fachkräfte abgeschreckt habe.  

Das Foto zeigt eine Protestaktion für den NHS, bei der Demonstranten Banner in die Luft halten.
Der 75. Geburtstag des NHS war begleitet von Protesten des Gesundheitspersonals. Foto: Imago / xTayfunxSalcix

Laut einer Untersuchung des „Nuffield Trust“ Thinktanks wuchs die Zahl europäischer Ärztinnen und Ärzte in Großbritannien zwar auch nach dem Brexit, allerdings kamen deutlich weniger Medizinerinnen und Mediziner als ursprünglich erwartet. Demnach hätten sich aufgrund des EU-Austritts mehr als 4.000 europäische Ärztinnen und Ärzte gegen eine Tätigkeit im Vereinigten Königreich entschieden.

Bei der Zuwanderung europäischer Medizinischer Fachangestellter (MFA) ist ebenfalls ein deutlicher Einbruch zu beobachten. Es ist allerdings anzumerken, dass die Zahlen durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie verzerrt sein könnten. Die britische Regierung setzt seit dem Brexit verstärkt auf medizinisches Personal aus dem außereuropäischen Ausland, vor allem aus Indien und den Philippinen.

Pro Jahr stehen im Vereinigten Königreich etwa 9.500 Medizinstudienplätze zur Verfügung, hinzu kommen etwa 1.100 Studienplätze im Bereich Zahnmedizin. Die britische Regierung gibt selbst zu, dass das Land nicht in der Lage ist, eine ausreichende Zahl junger Ärztinnen und Ärzte auszubilden. Es sei allerdings auch nicht möglich, die Zahl der Studienplätze signifikant zu erhöhen, da die Ausbildung eines einzelnen Studierenden mit etwa 230.000 Pfund sehr viel koste. Außerdem seien nicht genügend Dozierende verfügbar und der ohnehin überlastete NHS könne nur eine begrenzte Zahl praktischer Aus- und Weiterbildungen anbieten. Die Einwanderung ausländischer Medizinerinnen und Mediziner ist für das britische Gesundheitssystem also von existenzieller Bedeutung.  

Schlechte Corona-Bilanz trotz Impferfolg

In den ersten Wochen der Corona-Pandemie setzte die Regierung von Boris Johnson auf eine Strategie der „gesteuerten Durchseuchung“ und ergriff vergleichsweise spät einschneidende Maßnahmen wie einen Lockdown. Bis Juni 2020 starben etwa 43.000 Menschen an Covid-19, Großbritannien galt als das am schwersten von der Pandemie getroffene Land Europas. Obwohl das Militär half, Notfallkrankenhäuser zu errichten und viele medizinische Fachkräfte aus dem Ruhestand zurückkehrten, gelang es nicht, alle Erkrankten angemessen zu versorgen.

Trotz aller Probleme empfinden die Britinnen und Briten große Sympathien für den NHS. Das zeigte sich gerade während der Corona-Pandemie. Foto: Imago / Kieran McManus

Im Dezember 2020 begann das Vereinigte Königreich als erstes Land der westlichen Welt mit der Massenimpfung der Bevölkerung. Am 19. Juli 2021 wurden fast alle Maßnahmen aufgehoben und das Land feierte den umstrittenen „Freedom Day“. Bis zum 17. Februar 2023 hatte das Vereinigte Königreich 218.632 Corona-Tote zu beklagen, das sind 321 Verstorbene pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. In Deutschland waren es zum selben Zeitpunkt 167.214 Todesfälle, das entspricht 201 Verstorbenen pro 100.000 Bürgerinnen und Bürgern. Viele Mitarbeitende des NHS erlebten die Pandemie als überfordernde und traumatische Zeit.

Tödliche Krise

Obwohl die Corona-Pandemie weitgehend überwunden scheint, schafft es das britische Gesundheitssystem nicht aus der Krise. Die Sparpolitik, der Brexit, die Belastungen durch Corona und die schwierige wirtschaftliche Lage haben den NHS erheblich geschwächt und zu einem drastischen Personalmangel geführt.

Inzwischen schafft es das staatliche Gesundheitswesen nicht mehr, alle Patienten rechtzeitig und angemessen zu versorgen. Viele Menschen müssen stundenlang auf einen Krankenwagen oder die Behandlung im Krankenhaus warten. Selbst bei lebensbedrohlichen Notfällen wie einem Herzinfarkt kann es bis zu eineinhalb Stunden dauern, bis ein Notarzt eintrifft. Laut des „Royal College of Emergency Medicine“ starben im Dezember 2022 jede Woche zwischen 300 und 500 Menschen, da sie nicht rechtzeitig medizinisch versorgt werden konnten.

Die Personalkrise ist auch bei der hausärztlichen Versorgung deutlich zu spüren. Seit 2016 ging die Zahl der Hausärztinnen und Hausärzte im Vereinigten Königreich von 29.320 auf 27.375 zurück. Im Landesdurchschnitt sind inzwischen 2.273 Patientinnen und Patienten pro Allgemeinarzt eingeschrieben, in einigen Landesteilen sind es fast 3.000. Im Jahr 2016 waren es noch durchschnittlich 1.981 Patientinnen und Patienten. Für viele Menschen ist es daher schwierig, zu einem angemessenen Zeitpunkt einen Arzttermin zu bekommen. Entsprechend suchen sie auch bei eigentlich harmlosen Beschwerden die Notaufnahme auf, was zusätzlich zu deren Überlastung beiträgt.

Auch die Ärztinnen und Ärzte leiden unter der Situation. Viele erkranken an Burn-out, chronischem Stress oder Schlafstörungen. Die hohe Belastung macht eine Karriere in der Medizin unattraktiv, immer mehr Ärztinnen und Ärzte entscheiden sich für einen Berufswechsel – ein Teufelskreis, der den Personalmangel weiter verschärft.

Das Foto zeigt den britischen Premierminister Rishi Sunak, während er mit Mitarbeitenden des Addenbrooke's Hospitals in Cambridge ein gemeinsames Selfie macht.
Premierminister Rishi Sunak traf sich am 30. Juni 2023 mit Mitarbeitenden des Addenbrooke's Hospitals in Cambridge. Foto: Imago / Simon Dawson

Zu Beginn des Jahres 2023 streikten Zehntausende Mitarbeitende des NHS. Dabei bemühte man sich, weiterhin eine Mindestversorgung zu gewährleisten. Kernforderungen waren bessere Arbeitsbedingungen und eine deutliche Lohnerhöhung, auch da die starke Inflation die Reallöhne erheblich schrumpfen ließ. Die Regierung von Premier Rishi Sunak ist bisher nicht zu einem Entgegenkommen bereit, da die Haushaltslage zu schwierig sei und Gehaltserhöhungen zu einer Verschärfung der Inflation beitrügen.

2012 waren Krankenschwestern des NHS ein prominenter Teil der Eröffnungsshow der Olympischen Spiele in London. Die ganze Welt wurde Zeuge, wie viel Stolz und Sympathie die Britinnen und Briten für ihr Gesundheitswesen empfanden. Ein Jahrzehnt später befinden sich die staatlich gelenkten und überwiegend durch Steuergeld finanzierten Praxen und Kliniken in einer historischen Krise, die jeden Tag Menschenleben kostet. Die konservative Regierung verspricht gegenzusteuern. Sie will mehr Geld in den NHS investieren, 7.000 neue Krankenhausbetten schaffen und Zehntausende neue Ärztinnen und Ärzte sowie medizinische Fachangestellte einstellen. Viele Expertinnen und Experten kritisieren die Maßnahmen als unzureichend, um die Gesundheitsversorgung wieder auf ein angemessenes Niveau zu heben. Die anhaltende politische und wirtschaftliche Krise des Vereinigten Königreichs erschwert die Situation zusätzlich. Die Not des NHS wird die britische Öffentlichkeit also noch lange beschäftigen.  

Lukas Brockfeld / Angélique Herrler

 

(Dieser Artikel erschien ursprünglich im Oktober 2016. Er wurde aktualisiert und in abgeänderter Form online gestellt.)

 

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