09.09.2022

Quo vadis, Digitalisierung?

Das Foto zeigt einen Schreibtisch, auf dem verschiedene digitale Endgeräte und ein Stethoskop liegen.
Die Digitalisierung verändert nahezu alle Bereiche des Gesundheitswesens. Eine reine Erfolgsgeschichte ist sie bislang noch nicht. Foto: iStock/ipopba

Deutschland und der digitale Wandel – bislang nicht rundum eine Erfolgsgeschichte. Auch bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen hakt es.  

Bereits in ihrem Positionspapier vor der Bundestagswahl im Herbst 2021 hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) die Anforderungen klar benannt: „Damit die Digitalisierung des Gesundheitswesens ihr volles Potenzial entfalten kann, um die Versorgung von Patientinnen und Patienten zu verbessern, ist es erforderlich, den Mehrwert für Nutzer und Nutzerinnen in den Mittelpunkt zu rücken.“ Entscheidend sei hierbei, dass künftig zunächst die medizinischen Versorgungsprozesse im Vordergrund stünden und nicht, wie bisher, die technischen Werkzeuge und Instrumente, heißt es unter Punkt 3 in dem Dokument. „Nur eine Digitalisierung, die sich strikt an diesen Versorgungsprozessen ausrichtet, diese unterstützt und erleichtert, wird Ärzte und Psychotherapeuten sowie ihre Praxisteams von der Digitalisierung nachhaltig überzeugen. Die frühzeitige Einbeziehung aller Beteiligten ist hierfür erforderlich.“

 

Zukunftsfähige TI

In ihrer Vertreterversammlung (VV) in Bremen verabschiedeten der KBV-Vorstand und die Delegierten der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) gleich zwei Resolutionen zu der Problematik: Einerseits lautete der Appell an das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), die Telematik-Infrastruktur (TI) zukunftsfähig zu gestalten und ein Schnellprogramm für akute Probleme sowie Kurskorrekturen bei der Strategie vorzunehmen. Zudem richtete die VV einen Aufruf an die gematik, nicht eine Digitalisierung „mit der Brechstange“ voranzutreiben, in der die Arztpraxen mit Dysfunktionalitäten der Infrastruktur und nicht ausreichend getesteten Anwendungen in einer Weise konfrontiert würden, dass die Praxisabläufe gefährdet seien.

Das Foto zeigt eine Mitgliederabstimmung bei der KBV-Vertreterversammlung in Bremen.
Die KBV-Vertreterversammlung in Bremen verabschiedete zwei Resolutionen zur Digitalisierung. Foto: KBV/Hendrik Schmitz

Eine „versorgungsorientierte Digitalisierung“ ist der Anspruch. Letztlich haben beide Resolutionen Folgendes im Blick: „Die digitale Vernetzung des Gesundheitswesens über alle Sektoren und Fachberufe wird für eine zukunftsfeste Aufrechterhaltung und – wo möglich – Verbesserung der medizinischen und pflegerischen Versorgung der Menschen in Deutschland mithilfe digitaler Innovationen angestrebt.“

 

Vielschichtige Probleme

Baustellen gibt es zahlreiche auf dem Feld der Digitalisierung; die Probleme sind vielschichtig. Beispiel TI: Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz wurde sie 2004 beschlossen. „Das ist 18 Jahre her. Zumindest nach Jahren ist die TI also volljährig“, sagt KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel. „Faktisch steckt sie aber noch in den Kinderschuhen.“ Exemplarisch hierfür sind unter anderem das Notfalldaten-Management oder der elektronische Medikationsplan: Bei beiden Anwendungen fehlt die Nachfrage von Patientinnen und Patienten. Der elektronische Arztbrief (eArztbrief) ist nur begrenzt nutzbar. Grund hierfür sind technische Probleme etwa mit dem Kommunikationsdienst KIM (Kommunikation im Medizinwesen) oder fehlende Module für das Praxisverwaltungssystem (PVS) beziehungsweise deren mangelhafte Integration.

KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel bei der VV in Bremen: „Faktisch steckt die TI noch in den Kinderschuhen.“ Foto: KBV/Hendrik Schmitz

Als ebenfalls bislang nicht wirklich überzeugend erweisen sich die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und die elektronische Patientenakte (ePA). TI-Probleme wie abstürzende Konnektoren, fehlende Software-Updates und KIM-Dienste behindern die Praxen bei der Anwendung der eAU. Zudem fehlen Technik-Ansprechpartner. Die Reaktionen aus den Praxen schwanken zwischen frustriert, verärgert und entmutigt. „Wir würden gerne digital arbeiten. Leider funktioniert es seit August 2021 (Installationsdatum) nicht. Kein Techniker der Welt blickt durch“, lautete beispielsweise ein Kommentar der KBV-Praxisbefragung aus dem Frühjahr. Und das ist beileibe kein Einzelfall. Die ePA wiederum gilt als Nutzer-unfreundlich. Zudem kennen die wenigsten Versicherten ihren Anspruch darauf.

 

Dilemma eRezept

Genauso lässt sich die bisherige Entwicklung des eRezepts als Malaise bezeichnen. „Praxen, die mit dem eRezept Versuche gestartet hatten, meldeten Probleme beim Versand. Sie bemängelten die Erreichbarkeit der IT-Dienstleister und Anbieter sowie der gematik. Und sie wiesen darauf hin, dass die Patientinnen und Patienten Probleme beim Einlösen in den Apotheken meldeten – sofern sie überhaupt eine Apotheke gefunden hatten, die ein Rezept annehmen konnte“, berichtet Kriedel. Auch beim eRezept gibt es Akzeptanzprobleme bei Patientinnen und Patienten. Über ein frühes Erprobungsstadium ist es zunächst nicht hinausgekommen. „Weil in dieser ersten Phase nur die Technik getestet worden ist, haben wir als KBV maßgeblich in der Gesellschafterversammlung der gematik durchgesetzt, dass wir ein Ausrollmodell über drei Phasen starten“, betont Kriedel.

Das Foto zeigt einenen Ausdruck zur Einlösung eines E-Rezepts auf dem sich ein QR-Code befindet, der per Handy eingelesen wird.
Bei der Vorstellung des eRezepts: Ein QR-Code auf dem Handy kann beispielsweise zum Einlösen und Abholen von Medikamenten in einer Apotheke benutzt werden – hier gibt es noch einen Ausdruck mit QR-Code auf Papier. Foto: IMAGO/photothek

Am 1. September ist der stufenweise Rollout des eRezepts für verschreibungspflichtige Arzneimittel gestartet – zunächst in der KV-Region Westfalen-Lippe. Auch die KV Schleswig-Holstein wollte teilnehmen. Bis auf Weiteres musste sie sich aus der Rollout-Phase zurückziehen. Die Landesdatenschutzbeauftragte in Kiel hatte Bedenken darüber geäußert, dass Rezeptcodes mit Einwilligung der Patienten auch per E-Mail oder als SMS verschickt werden. Aus KV-Sicht gibt es damit momentan keine wirkliche digitale Alternative zur eRezept-App – die allerdings voraussetzt, dass die Krankenkassen eine NFC-fähige Gesundheitskarte sowie die dazugehörige PIN an die Versicherten ausgegeben haben.

Der stufenweise Rollout des eRezepts für verschreibungspflichtige Arzneimittel ist am 1. September 2021 gestartet – zunächst in der KV-Region Westfalen-Lippe. Foto: iStock/Ivan-balvan

Für den Rollout des eRezepts sollen später weitere KV-Regionen folgen. Vorausgesetzt, die erste Phase klappt. Arztpraxen nehmen auf freiwilliger Basis teil; weitere Praxen kommen nach und nach hinzu. Der Rollout wird dabei eng begleitet, um Probleme schnell identifizieren und lösen zu können. Die gematik stellt dafür eine eigene Supportstruktur bereit. Sind die festgelegten Kriterien für die erste Stufe des Ausrollens erfüllt, starten sechs weitere KV-Regionen mit dem Rollout. Verläuft auch die zweite Stufe erfolgreich, soll das eRezept in den restlichen KV-Regionen ausgerollt werden.

 

Schlechte Erfahrungen mit eAU

„Die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen stehen der Digitalisierung grundsätzlich offen gegenüber – wenn sie denn funktioniert und den Praxen die Arbeit erleichtert. Das gilt auch für das eRezept. Und da zeigt sich: Von einem reibungslosen Funktionieren sind wir noch meilenweit entfernt“, konstatiert KBV-Vorstandsvorsitzender Dr. Andreas Gassen. Eine Online-Umfrage der KBV im August bei rund 4.000 Praxen zu den Erfahrungen mit eAU und eRezept spiegelte grundsätzliche Akzeptanzprobleme wider, da die Arbeitsabläufe in den Praxen oftmals nicht erleichtert werden. Knapp zehn Prozent der Arztpraxen, die sich an der Umfrage beteiligt hatten, sammelten bereits erste Erfahrungen mit dem eRezept. Größter Kritikpunkt: Die Ausstellung inklusive elektronischer Signatur dauere zu lange.

Auch bei der eAU wird die Umsetzung der Signaturfunktion häufig als mangelhaft beschrieben. Einige Hersteller hätten zudem die Komfort- und die Stapelsignatur gar nicht oder nicht gut umgesetzt, monierten die Befragten, sodass die Formulare teilweise noch einzeln signiert werden müssen. Dass die Signatur grundsätzlich gut funktioniert, berichteten 44 Prozent. Eines der größten Ärgernisse ist der hohe Zeit- und Arbeitsaufwand. Viele Ärztinnen und Ärzte kritisierten, dass das Ausstellen der eAU deutlich länger dauere als das Ausstellen einer Papier-AU. Das koste Zeit, die dann für die Patientenversorgung fehle. Durch zusätzliche Papierausdrucke hätten die Praxen zudem doppelte Arbeit.

„Dass Praxen zum Teil mehr als eine Minute warten müssen, bis die Daten für einen Patienten signiert und übertragen sind, ist bei einer Massenanwendung wie der eAU unhaltbar“, kritisiert Kriedel. Er fordert die gematik eindringlich zur Nachbesserung auf: „Wir brauchen praxistaugliche und funktionierende Prozesse.“

 

Kontroverse um Konnektorentausch

Aktuell sorgt zudem die Debatte um den Konnektorentausch für Frust bei Vertragsärztinnen und -ärzten sowie -psychotherapeutinnen und -psychotherapeuten. „Circa 130.000 Geräte mit Kosten von rund 300 Millionen Euro müssen ausgetauscht werden“, erklärt Kriedel. Der Wechsel der Hardware ist derzeit die einzige Möglichkeit, um die Anbindung an die TI sicherzustellen. Ob der Konnektortausch wirklich notwendig ist? „Es wurde von der Stimmmehrheit der Gesellschafter Ende August ein Beschluss getroffen, wonach die gematik bis September 2023 Zeit hat, Aussagen zu möglichen Alternativen zu treffen. Dieser Beschluss lässt die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen aktuell vollkommen im Unklaren, was verbindliche Aussagen zu möglichen Alternativen eines Konnektorentauschs angeht“, erläutert das KBV-Vorstandsmitglied.

 

Das BSI gestaltet nach eigenen Angaben Informationssicherheit in der Digitalisierung durch Prävention, Detektion und Reaktion für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Foto: IMAGO/Horst Galuschka

Dabei hält das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) laut Medienberichten eine Weiternutzung der RSA-Schlüssel in den Konnektoren bis Ende 2025 für vertretbar. Bisher hieß es, die RSA-Schlüssel seien nur bis Ende 2024 vom BSI zugelassen. Die KBV dränge darauf, das zu überprüfen, um den millionenschweren Konnektorentausch – auch im Sinne der Nachhaltigkeit – abwenden zu können. „Die Gesellschafterversammlung der gematik hat unseren Antrag auf eine Neubewertung möglicher Alternativen zum Konnektorentausch mit Stimmmehrheit leider abgelehnt“, so Kriedel. Aktuell gebe es zum Konnektorentausch keine Alternative – zumindest bis September 2023. Nur bei den Anbietern der Konnektoren bestehe grundsätzlich eine Auswahlmöglichkeit. Die KBV drängt dennoch weiterhin auf eine eingehende Prüfung, ob es nicht doch noch eine Alternative zum kompletten Austausch gibt.

 

Versorgung verbessern

Noch bastelt die Bundesregierung an ihrer E-Health-Strategie. Einige Anpassungen in Sachen Digitalisierung gibt es nun im Zuge des Krankenhauspflegeentlastungsgesetzes (KHPflEG). Im Referentenentwurf sind Regelungen zur Digitalisierung enthalten. Die KBV hat dazu Stellung bezogen und begrüßt unter anderem, „dass die von ihr seit geraumer Zeit vorgetragene Forderung, nach der Regelungen geschaffen werden müssen, mit denen unterbunden wird, dass die Anbieter von IT-Systemen eine herstelleroffene Umsetzung von Vorgaben fortgesetzt unterlaufen, aufgegriffen werden“. Zudem wird noch einmal auf einen ganz entscheidenden Punkt verwiesen: „Um zukünftig eine erfolgreiche Digitalisierung möglich zu machen, wird vorgeschlagen, die Aufgaben der gematik um die Unterstützung der Anwenderinnen und Anwender in der Entwicklungs-, Erprobungs- und Roll-out-Phase explizit zu erweitern und damit die Voraussetzungen zu verbessern, dass mit ausgereiften und praxistauglichen Anwendungen die Akzeptanz und das tatsächliche Verbesserungspotenzial der Digitalisierung erhöht wird.“

KBV-Vorstand Kriedel hält eine grundlegende Kurskorrektur für eine erfolgreiche Digitalisierung im Gesundheitswesen für unumgänglich: „Für eine perspektivisch erfolgreiche TI in unserem Gesundheitswesen brauchen wir neben anderem etwa eine Fokussierung auf die Versorgung und eine umfassende Einbindung der Betroffenen.“ Immer wieder habe die KBV betont, eine Digitalisierung zu unterstützen, mit der die Versorgung verbessert werden könne, so Kriedel. „Sie muss helfen, die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte sowie der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu entlasten und zusätzliche Kosten zu vermeiden. Das würde zu erheblich mehr Akzeptanz der Digitalisierung beitragen.“

 

Thomas Schmitt

 

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