19.01.2022
Dr. Paula Piechotta, MdB (Bündnis 90/Die Grünen)
„Die Zeit der extrem vollen Kassen im Gesundheitswesen ist vorbei“
Dr. Paula Piechotta ist seit Oktober Mitglied des Deutschen Bundestags. Die Ärztin aus Sachsen ist für Bündnis 90/Die Grünen ins Parlament eingezogen. Im Klartext-Interview spricht sie über die Erwartungen an den Gesundheitsminister, ihr Rezept gegen Ärztemangel, Bürokratie-Abbau und darüber, was die Gesundheitsbranche zum Klimaschutz beisteuern kann.
Von der Klinik in den Bundestag: Als Fachärztin für Radiologie kennen Sie das deutsche Gesundheitswesen aus der Praxis. Inwiefern hilft Ihnen das bei Ihrer parlamentarischen Tätigkeit?
Das Tolle an der Radiologie ist, dass es nicht nur ein Querschnittsfach ist, sondern dass man pro Tag auch so viel mehr Patientinnen und Patienten sieht aus vielen anderen Fachrichtungen. Und was ich immer spannend fand in der Radiologie, ist, dass man ja auch so eine Controlling-Funktion für viele Fachrichtungen hat – egal, ob man Tumorerkrankungen staged oder postoperative Bilder macht. Man sieht dann immer sehr genau, wo Therapie funktioniert oder wo eine OP gut gelaufen ist und wo nicht. Gerade diese Überblicksfunktion in der Radiologie und auf der anderen Seite diese große Technikaffinität ergeben in der Summe ein Fach, das einen extrem guten Überblick über das Gesundheitswesen bietet und wo man immer wieder auch mit vielen verschiedenen anderen Fachrichtungen in Berührung kommt – das ist, glaube ich, eine gute Voraussetzung, um einen sehr breiten Blick über das Gesundheitswesen zu haben.
Insbesondere in Bezug auf Corona
brauchen wir jetzt ein Gesundheitsministerium, das auch die mittel- und langfristige Strategie stärker im Auge hat und im zweiten Jahr der Pandemie wegkommt von diesem extrem kurzsichtigen Agieren, das oft nicht weiterreicht als wenige Wochen.
Was sind, abgesehen von der Pandemiebewältigung, Ihrer Auffassung nach die drängendsten Probleme im deutschen Gesundheitssystem?
Ich denke, „abgesehen von“ ist in diesen Tagen ein eher schwieriger Satz, weil Corona uns alle beschäftigt. Und Corona wirkt zugleich auch als Katalysator für viele gesundheitspolitische Debatten, wenn wir uns zum Beispiel allein den Einfluss von Corona auf die Debatte um den Fachkräftemangel anschauen. Der ist extrem bedeutend.
Abgesehen vom Fachkräftemangel sehe ich als unglaublich relevante Themen die Krankenhausreform und die Sicherung der ambulanten Versorgung gerade in prekären ländlichen Regionen. Außerdem ist als Thema wichtig, die Gesundheitsprävention stärker auszubauen, um auch dadurch dem Fachkräftemangel zu begegnen, dass man in Zukunft gegebenenfalls auch an der Stelle früher interveniert, als es heute regulär der Fall ist. Abschließend natürlich die große Frage der alternden Gesellschaft mit einem galoppierenden medizinischen Fortschritt: Wie halten wir das innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung finanzierbar? Das sind ebenfalls zentrale Fragen, die gelöst werden müssen.
Die Erwartungen in den neuen Gesundheitsminister sind groß. Was muss Professor Lauterbach anders machen als sein Vorgänger?
Insbesondere in Bezug auf Corona brauchen wir jetzt ein Gesundheitsministerium, das auch die mittel- und langfristige Strategie stärker im Auge hat und im zweiten Jahr der Pandemie wegkommt von diesem extrem kurzsichtigen Agieren, das oft nicht weiterreicht als wenige Wochen. Wir brauchen sehr, sehr viel mehr Transparenz. Allein die Tatsache, dass wir jetzt als Ampelkoalition im Bundesgesundheitsministerium eine Situation vorgefunden haben, in der einfach nicht genügend Impfstoff für die Booster-Kampagne vorrätig war und das auch nicht vorher klar kommuniziert worden ist, zeigt, was wir hier brauchen. Auch in den Corona-politischen Debatten benötigen wir eine viel größere Transparenz, in den Ausschüssen des Bundestags, in der öffentlichen Debatte, damit man auch schneller darauf reagieren kann, wenn es Fehlentwicklungen gibt. Und mit Blick auf das Agieren von Herrn Spahn vor der Corona-Krise: Die Zeit der extrem vollen Kassen im Gesundheitssystem ist vorbei. Er hat diese Kassen, gerade auch die Rücklagen der GKV komplett leergespült – und zwar schon vor Corona. Wir müssen in Zukunft wieder stärker darauf schauen, ob bei neuen Dingen, die wir finanzieren, auch tatsächlich Kosten und Nutzen im Verhältnis stehen. Wir wollen gewinnbringende neue Möglichkeiten im Gesundheitswesen, neue Therapien, neue Therapieformen, auch digitale Formate. Wir wollen das finanzieren, aber es muss einen entsprechenden Gegenwert geben. Es kann nicht weiter nur darum gehen, alles zu finanzieren, egal wie teuer es ist, egal ob es sinnvoll ist.
Ein starker grüner Fokus auf die Sicherstellung der psychiatrischen Versorgung, insbesondere im ambulanten Bereich, könnte unglaublich vielen Patientinnen und Patienten in Deutschland helfen, die heute monatelang auf Therapieplätze warten.
Wie viel „grün“ steckt – unter gesundheitspolitischen Aspekten – im Ampel-Koalitionsvertrag?
Schon im Wahlkampf lagen die Positionen der drei Ampel-Parteien gar nicht so weit auseinander wie bei anderen Politikfeldern. Ich glaube, dass sich das auch in einer sehr kollegialen Zusammenarbeit fortsetzen wird, was die Gesundheitspolitik angeht.
Grüne Gesundheitspolitik findet sich jetzt vor allem dort wieder, wo es darum geht, die nichtakademischen Gesundheitsberufe aufzuwerten: Dass Hebammen aufgewertet werden, dass Pflege aufgewertet wird – etwa durch neue Qualifikationsmöglichkeiten und damit auch eine Attraktivitätssteigerung des Pflegeberufs über Gemeindeschwestern, über „Community Health Nursing“. Das sind alles grüne Aspekte.
Ein starker grüner Fokus auf die Sicherstellung der psychiatrischen Versorgung, insbesondere im ambulanten Bereich, könnte unglaublich vielen Patientinnen und Patienten in Deutschland helfen, die heute monatelang auf Therapieplätze warten. Und natürlich die sehr starke Fokussierung auf die Sicherstellung der Versorgung im ländlichen Raum. Was ich persönlich sehr gut finde, ist die Gemeindeschwester als neue Möglichkeit, außerhalb der ärztlichen Profession eine qualitativ hochwertige Versorgung sicherzustellen, auch in Regionen, die sehr überaltert sind.
Was wollen Sie gegen Ärztemangel und für mehr medizinischen Nachwuchs tun?
Das A und O sind die Arbeitsbedingungen. Diese sind einfach nicht gut genug. Und wenn sie weiterhin so sind, dass niemand nachhaltig Vollzeit arbeiten kann, ohne dabei selber genau die Verschleißerscheinungen zu produzieren, vor denen man selbst andere Patientinnen und Patienten warnt, so lange werden wir da ein Problem haben. Deswegen bin ich kein Freund von Landarztquoten oder dem immer wiederkehrenden Ruf nach der Erhöhung von Studienplätzen. Denn das löst nicht das Grundproblem, dass die Arbeitsbedingungen so unattraktiv sind, dass viele in Teilzeit gehen, dass viele Fachrichtungen wählen, die weniger arbeitsintensiv sind. Ich glaube, wenn wir gerade im Bereich Chirurgie oder im Bereich Allgemeinmedizin weiter gute Versorgung haben wollen, dann hilft es nicht, mehr Medizinstudentinnen und -studenten zu haben, die fünf oder zehn Jahre später nach der Facharztausbildung wieder andere Fachrichtungen wählen, weil diese Fachrichtungen unattraktiv sind, sondern wir müssen ans Grundübel ran. Das sind die Arbeitsbedingungen. Da kann Digitalisierung eine wichtige Rolle spielen.
Da ist es meiner Meinung nach auch sehr interessant, dass wir die Allgemeinmedizin aus der Budgetierung rausnehmen wollen. Das kann eine enorme Attraktivitätssteigerung auch für die Niederlassung im Bereich Allgemeinmedizin bedeuten. Und wir müssen auch darüber sprechen, welche Aufgaben, die heute von Ärztinnen und Ärzten übernommen werden, tatsächlich von diesen geleistet werden müssen. Ich bin ein großer Freund davon, auch darüber zu reden, wie wir die nichtakademischen Gesundheitsberufe stärken können, damit es auch für sie attraktiver wird und damit Ärztinnen und Ärzte sich darauf konzentrieren können, was wirklich kernärztliche Kompetenz ist. Wenn Sie in den Koalitionsvertrag schauen, dass zum Beispiel die Therapeutenberufe selbst verordnen können, dann schafft das Freiräume für Ärztinnen und Ärzte. Das ist mindestens genauso wichtig wie die Medizinstudierendenzahl.
Wenn wir auf die letzten Dekaden der gematik zurückblicken, dann kann es eigentlich nur besser werden.
Wie kann die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorangebracht werden?
Wenn wir auf die letzten Dekaden der gematik zurückblicken, dann kann es eigentlich nur besser werden. Was ein enormer Schalter und Hebel sein kann, ist die Einführung von „Opt-out“ für die elektronische Gesundheitskarte, dass Patientinnen und Patienten sich nicht mehr aktiv dafür entscheiden müssen, sondern dass das die Variante ist, wenn sich Patientinnen und Patienten nicht äußern, die genommen wird.
Wir müssen die Digitalisierung im Gesundheitswesen sehr viel benutzerfreundlicher gestalten. Wenn man sich allein anschaut, wie unattraktiv es derzeit für den einzelnen Arzt oder die einzelne Ärztin ist und wie auch die Voraussetzung ist, einen elektronischen Heilberufsausweis zu beantragen, dann ist das von vornherein so angelegt, dass es die größtmögliche Aversion von Ärztinnen und Ärzten auslöst – und damit im Bezug auf die Digitalisierung eben auch unglaublich viele negative Gefühle: Denn bevor man irgendeinen Nutzen des Heilberufsausweises sieht, muss man bezahlen, man muss beantragen, man muss Formulare ausfüllen. Wir sind uns alle einig, dass Digitalisierung unglaublich wichtig ist, auch dafür, dass das Gesundheitswesen funktionsfähig bleibt. Dann müssen wir uns aber auch mehr Mühe geben, sie so einzuführen, dass die Benutzerinnen und Benutzer – sowohl Patienten als auch Gesundheitsberufe – diese auch gern nutzen und die Vorteile sofort sehen und nicht primär mit den Nachteilen konfrontiert werden. Und auch bei diesem Thema geht es wieder darum, gerade auch, wenn wir auf den Markt schauen, dass wir in Zukunft wieder mehr Transparenz brauchen. Es gibt unglaublich viele Akteure. Es gab von Herrn Spahn den Versuch, diesen gordischen Knoten durchzuschlagen, was aber in dieser Situation nicht die beste Option war, weil das wieder viel Vertrauen gerade bei der Ärzteschaft in die wirkliche Unabhängigkeit und gute Funktionsfähigkeit der gematik zerstört hat.
Bei TI-Anwendungen wie ePA und eRezept gibt es erhebliche Zweifel ob ihrer Marktreife. Wie stellen Sie künftig sicher, dass die Digitalisierung das hält, was sie verspricht – nämlich die medizinische Versorgung zu verbessern?
Das liegt vor allem auf exekutiver Seite. Das heißt, wie gut kann das ein Bundesgesundheitsministerium unter Zuarbeit des Gesundheitsausschusses und der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen konkret umsetzen. Da kommt es oft darauf an, dass die Leute, die daran beteiligt sind, ein großes Interesse daran haben, dass es gut läuft. Insbesondere jetzt mit uns Grünen und der FDP in dieser Regierung, für die beide Digitalisierung und Fortschritt in der Medizin ein sehr zentrales Thema ist, haben wir einfach mehr Leute, die darauf schauen, dass Digitalisierung gut und auch rational läuft. Im Koalitionsvertrag kann man so etwas nicht ausbuchstabieren. Es wird sicher nicht einfach, weil man eine Situation vorfindet, die unglaublich vorgeprägt ist von den Problemen der letzten Jahre. Ich habe an dieser Stelle aber sehr großes Vertrauen in die einzelnen Akteure, gerade auch wenn ich auf die Mitglieder des Gesundheitsausschusses von FDP und Grünen schaue.
Ebenso im Koalitionsvertrag festgehalten: Rot-Grün-Gelb möchte ein Bürokratieabbau-Paket auf den Weg bringen. Was ist konkret angedacht?
Das ist zu großen Teilen Aufgabe des Gesundheitsministeriums. Da muss man abwarten, wie das Ministerium neben der Corona-Bewältigung die vielen anderen Aufgaben aus dem Koalitionsvertrag wird abarbeiten können. Aber ganz konkret festgeschrieben ist die Verstetigung der jetzt schon in der Pandemie eingeführten Verfahrenserleichterungen – zum Beispiel die Pflegebegutachtung, die jetzt nicht mehr zwingend vor Ort erfolgen muss. Oder wenn wir uns anschauen, wie jetzt Krankschreibungen möglich sind. Das soll zu großen Teilen verstetigt werden.
Zudem haben wir gemeinsam vereinbart, dass wir kenntlich machen wollen, welche Bürokratiepflichten für die Leistungserbringer im Gesundheitswesen nicht nur durch gesetzliche Maßnahmen, sondern auch durch Regelungen der GKV entstehen, weil das natürlich alles immer Arbeitszeit von mangelnden Fachkräften ist, die wir am Krankenbett oder im Gespräch mit den Patientinnen und Patienten besser brauchen können. Hier kann Digitalisierung wieder eine gute Rolle spielen, um zu erreichen, dass mehr Zeit für Patientinnen und Patienten zur Verfügung steht.
Was daneben noch für Patientinnen und Patienten eine große Bedeutung erlangen kann, ist die Verschränkung von Leitstellen, so dass es in Zukunft deutlich einfacher wird, schnell an die richtige Stelle zu gelangen, weil es patientenfreundlicher und barriereärmer gestaltet wird.
Fast schon als eine Art Notfall gilt die sektorenübergreifende Notfallversorgung: Was möchten Sie dort tun?
In der letzten Legislaturperiode gab es bereits diverse Anläufe, weil gerade der Handlungsdruck im Bereich Notfallmedizin besonders groß ist. Das wahrscheinlich Entscheidendste wird sein, dass wir die Notfallmedizin als einen von drei Bereichen neben zum Beispiel auch der Kindermedizin definiert haben, wo die Finanzierung neu geregelt werden soll, so dass sie nicht mehr zu Anreizen führt, die Notfallversorgung runterzufahren. Was daneben noch für Patientinnen und Patienten eine große Bedeutung erlangen kann, ist die Verschränkung von Leitstellen, so dass es in Zukunft deutlich einfacher wird, schnell an die richtige Stelle zu gelangen, weil es patientenfreundlicher und barriereärmer gestaltet wird. Dazu kommt der Punkt im Koalitionsvertrag zu Integrierten Notfallzentren, die insbesondere auch außerhalb der Städte dafür sorgen können, dass Notfallversorgung weiter qualitativ hochwertig stattfindet, auch in Regionen, die vielleicht nicht ganz so dicht besiedelt sind. Dort gibt es dann auch sehr gute Modelle für die Kassenärztlichen Vereinigungen vor Ort, wo sie entscheiden können, was für sie die bessere Option ist, um dort ihrem Versorgungsauftrag auch gerecht zu werden.
Stichwort Versorgung: Bündnis 90/Grüne plädiert für eine auf sogenannte Gesundheitsregionen ausgerichtete Reform. Was sehen Ihre Pläne vor?
Viele Parteien haben in den Debatten vor der Wahl im ganzen letzten Jahr über die Reform der Versorgung in ländlichen Räumen gesprochen. Was sich hier als relativ breit anerkannter Konsens herausgebildet hat und sich im Koalitionsvertrag wiederfindet, ist nicht so sehr die Gesundheitsregion als vielmehr, wie die Gesundheitsregion konkret ausgestaltet wird – nämlich über diese integrierten Gesundheits- oder Versorgungszentren oder wie auch immer man sie nennen mag. Da gibt es eine große Breite in der Nomenklatur.
Aber was zentral ist, dass wir dort, wo es Sinn macht, ambulante und stationäre Versorgung stärker miteinander verschränken. Im Koalitionsvertrag findet sich auch, dass wir Hybrid-DRGs anstreben, indem wir auch die Logiken des Gesundheitswesens über die Finanzierung dafür nutzen wollen, neue Anreize für tatsächlich sektorübergreifende Versorgung sicherzustellen. Auch das ist wieder ein Mittel, um in Regionen, wo der Fachkräftemangel besonders groß ist, sicherzustellen, dass Fachkräfte nicht durch überholte Sektorengrenzen und so weiter weniger zur Verfügung stehen, als sie es eigentlich können. Wir haben nun in Deutschland einige Gesundheitsregionen erlebt – teilweise mit Evaluation, die durchaus gemischt war: Gesundheitsregion in Deutschland kann sehr gut funktionieren, aber tendenziell besser in Landkreisen mit sehr guter finanzieller Gesamtsituation, mit einkommensstarken Bürgerinnen und Bürgern. Die große Aufgabe der nächsten Jahre wird es sein, gerade auch aus meiner sächsischen Perspektive, dass wir auch in strukturschwächeren ländlichen Regionen Versorgungsstrukturen schaffen, die halten, krisensicher und finanzierbar sind. Da können die integrierten Versorgungszentren beispielsweise einen sehr großen Beitrag leisten.
Das Gesundheitssystem ist ein sehr spezieller Raum, in dem noch nie die komplett freien Kräfte des Marktes gewirkt haben und wo wir immer wieder sehen, dass wir an bestimmten Stellen nachjustieren müssen.
Entscheidungen des Zulassungsausschusses müssen künftig durch die zuständige Landesbehörde bestätigt werden. Sorgt das nicht für unnötige Regulierung und Eingriffe in die Selbstverwaltung?
Das Gesundheitssystem ist ein sehr spezieller Raum, in dem noch nie die komplett freien Kräfte des Marktes gewirkt haben und wo wir immer wieder sehen, dass wir an bestimmten Stellen nachjustieren müssen. Wir haben jetzt auf der einen Seite im Koalitionsvertrag stehen, dass wir an der Stelle noch mal einen Check durch die zuständigen Behörden einziehen wollen, um aus unserer Sicht bestimmten Fehlentwicklungen etwas entgegensetzen zu können. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass es auch eine große Bürokratie-Erleichterung geben wird, nämlich mit dem Herausnehmen der Allgemeinmedizin aus der Budgetierung. Für den einzelnen Allgemeinmediziner und die einzelne Allgemeinmedizinerin und für ihre Patienten und Patientinnen wird es im Alltag eine deutlich spürbarere Entlastung sein als diese einmalige Frage, wer wird wo zugelassen zu Beginn der Niederlassung. Ich bin sehr gespannt, welche Mehrkosten durch diese Aufhebung der Budgetierung entstehen und aber auch wie viel attraktiver die Allgemeinmedizin dadurch werden kann. Wir haben zum Beispiel in Sachsen die Möglichkeit, dass Fachärztinnen und -ärzte für Anästhesie mit relativ geringem zeitlichen Aufwand sich auch als Allgemeinmediziner niederlassen können. Da gibt es relativ geringe Hürden, wie man auch nach der Facharztausbildung noch einmal auf Allgemeinmedizin umschwenken kann. So etwas kann auch dadurch gefördert werden, dass Allgemeinmedizin in der Niederlassung durch die Aufhebung der Budgetierung noch einmal sehr viel attraktiver wird. Deswegen bin ich auch sehr gespannt darauf, welche Auswirkungen das haben kann, wie viele tatsächlich niedergelassene Hausärztinnen und Hausärzte wir dann tatsächlich haben.
Wir müssen uns sehr genau anschauen, ob wirklich jeder Euro, der im Gesundheitswesen ausgegeben wird, tatsächlich auch zu einem besseren Gesundheitszustand der Bevölkerung führt.
Demografischer Wandel und natürlich die Pandemie belasten die GKV-Finanzen. Wie will die Koalition die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Zukunft sicherstellen?
Ich sitze ja vor allem auch als Ärztin im Haushaltsausschuss. Auf der einen Seite sehe ich die Milliarden, die wir jetzt für die Corona-Bewältigung ausgeben, aber auf der anderen Seite auch die Milliarden, die wir seit der Wahl schon wieder eingestellt haben, um die GKV zu stabilisieren. All das zeigt, wie unglaublich relevant der Bundeshaushalt für den Zustand unseres Gesundheitswesens ist. Kurzfristig ist der einzig gangbare und praktikable Weg zur Stabilisierung der GKV-Beiträge dieser Weg über Steuerzuschüsse, weil man natürlich sehr gut argumentieren kann, warum die Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland nicht noch weiter steigen sollen. Wir müssen uns mittel- und langfristig deswegen sehr genau anschauen, wie wir an allen Stellen, wo wir Geld für Dinge ausgeben, die sich nicht niederschlagen in einer besseren Versorgung oder besseren Arbeitsbedingungen, Einsparungen erzielen können. Wir müssen uns sehr genau anschauen, ob wirklich jeder Euro, der im Gesundheitswesen ausgegeben wird, tatsächlich auch zu einem besseren Gesundheitszustand der Bevölkerung führt. Wichtig ist darüber hinaus die Einnahmenseite: Wir tun als neue Bundesregierung unglaublich viel, um auch die Investitionstätigkeit wieder anzukurbeln und Wirtschaftswachstum in diesem Land zu generieren. Das würde die einfachste Möglichkeit darstellen, um vor allem auch wieder über höhere Einnahmen der GKV sicherzustellen, dass man ohne Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge auskommt.
Kürzlich haben Sie erklärt, dass die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) nicht mehr widerspiegele, was heute an medizinischer Leistung erbracht werde. Wann und wie wollen Sie das ändern?
Die GOÄ ist ein sehr komplexes Thema. Gleichzeitig gehört es momentan nicht zu den fünf drängendsten Problemen in der Gesundheitspolitik. Das ist natürlich eine nicht ganz so einfache Kombination, weil auch Gesundheitspolitik begrenzte Kapazitäten hat, die aktuell zu enorm großen Teilen von Corona eingenommen werden. Die große Frage wird sein, ob wir in den nächsten vier Jahren die Kapazitäten finden, uns auch an das Thema Gebührenordnung ranzusetzen. Das wäre wichtig, um den medizinischen Fortschritt an dieser Stelle auch abbilden zu können, weil es unglaublich überaltert ist. Aber es gibt extrem viele drängendere Probleme im Gesundheitswesen, die es zuerst zu lösen gilt. Wenn dann noch die Kapazitäten da sind, können wir uns gerne an die GOÄ setzen.
Was können Praxen, Krankenhäuser und Apotheken – kurzum: die gesamte „Gesundheitsbranche“ – zum Klimaschutz beitragen?
Ich finde es schön, dass dieses Thema jetzt auch in der Gesundheitsbranche so viel mehr Bedeutung erlangt. An was die meisten wahrscheinlich zuerst denken, ist Gebäudedämmung, Solarpanels auf Krankenhäusern und so weiter. Das ist auch unglaublich wichtig. Aber wir übersehen dabei noch viele Aspekte, die mindestens genauso wichtig sind.
Etwa der ganze Bereich ambulant vor stationär: Wir wissen, dass eine ambulante Behandlung zum Beispiel viel weniger CO2-Emissionen nach sich zieht als eine stationäre Behandlung. Das heißt, das ganze Bestreben von Gesundheitspolitik, sektorübergreifend Versorgung entsprechend aufzuteilen und stationäre Behandlung da, wo es sinnvoll ist, überflüssig zu machen, ist auch gleichzeitig eine sehr wirksame Maßnahme für Klimaschutz, wenn wir uns anschauen, dass die europäischen Kliniken knapp sieben Prozent zu den europäischen Emissionen beitragen.Was ich persönlich immer ein spannendes Thema finde, auch wenn es sicherlich nicht das größte ist, ist aber die ganze Frage nach Narkosegasen in der Anästhesie, die teilweise klimawirksam sind. Viele junge Assistenzärztinnen und -ärzte machen an verschiedenen Stellen in den Kliniken Druck, dass das umgestellt wird. Das halte ich für eine wichtige Bewegung innerhalb der jungen Ärztinnen und Ärzte.
Und die gesamte Frage der Ernährung: Wenn wir uns anschauen, wie viel mehr CO2 durch Fleischproduktion weltweit entsteht und wie wir wissen, dass übersteigerter Fleischkonsum erhebliche negative gesundheitliche Folgen hat und auch noch zur Klimakrise beiträgt, da er global gesundheitliche Folgen für die gesamte Bevölkerung generiert, haben wir als Ärztinnen und Ärzte ein doppeltes Interesse daran, eine weniger fleischlastige Ernährung gegenüber allen unseren Patientinnen und Patienten immer wieder anzusprechen. Das bedeutet natürlich auch eine Umstellung für die Mitarbeiterversorgung in den Kliniken. Das ist ein oft übersehener Aspekt, der einen unglaublich großen Faktor für klimaneutralere Medizin darstellt.
Die Fragen stellten Thomas Schmitt und Hendrik Schmitz
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