30.04.2021

Drei Fragen an ...

Professor Oliver Dimbath

Das Foto zeigt Prof. Oliver Dimbath, Erinnerungsforscher und Leiter des Instituts für Soziologie an der Universität Koblenz-Landau.
Professor Oliver Dimbath ist Erinnerungsforscher und Leiter des Instituts für Soziologie an der Universität Koblenz-Landau. Foto: Lena Homburg

1. Inwiefern ist Corona eine historische Zäsur?

Eine Zäsur ist ein Einschnitt, eine Unterbrechung. Für die Corona-Pandemie trifft das zu. Wir können sie darüber hinaus als Katastrophe bezeichnen. Eine Katastrophe ist eine fundamentale Störung der gewohnten Ordnung, bei der es, zumindest zeitweise, keine Hoffnung auf Wiederherstellung oder Rückkehr zur Normalität gibt. Für viele Menschen ist eine solche Störung in unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens eingetreten: in Form eigener Erkrankung, als Verlust von Angehörigen oder Freunden, als Zerstörung der eigenen Existenzgrundlage oder bei Organisationen, die an ihre Belastungsgrenze gekommen sind. An einigen Stellen wurden allerdings bereits neue Wege und Lösungen gefunden, wenn man an wissenschaftliche Errungenschaften, Präventionswissen oder Kompensationsmaßnahmen denkt. Wir können also von weitreichenden Veränderungen vieler eingelebter Verlässlichkeiten ausgehen. Es handelt sich also wohl um eine historische Zäsur.

2. Lockdowns, Impfchaos, leer gekaufte Supermärkte – was wird von der Pandemie in unserem Gedächtnis bleiben?

Wenn wir von ‚unserem Gedächtnis‘ sprechen, meinen wir immer zweierlei: Auf der einen Seite geht es um das, was wir als soziale Gruppe, zum Beispiel als Nation, in Erinnerung behalten. Auf der anderen Seite zählt zum Gedächtnis all das, was aufgrund vergangener Ereignisse für die Zukunft geändert wurde. Natürlich werden sich diejenigen, die von der Pandemie hart getroffen wurden, lange erinnern. Ob dies allerdings die leeren Supermärkte sind, wage ich zu bezweifeln. Hamsterkäufe sind ein Zeichen großer Verunsicherung. Eine solche haben wir mit einer gewissen Pandemieroutine überwunden und werden sie wohl vergessen. Auch die Lockdowns und Organisationsprobleme bei der Impfung werden wir vermutlich vergessen, sobald sie vorbei sind. In den gesellschaftlichen Gedächtnissen der Regelungen und Gesetze oder der wissenschaftlichen Erfindungen werden uns diese Ereignisse dagegen lange erhalten bleiben. Überall dort, wo wir die Ordnungen unseres Zusammenlebens durch politische Prozesse umprogrammieren mussten und wo wir die Diskussionen und Entscheidungsfindungen protokolliert und dokumentiert haben, verfügen wir über neues Wissen, das uns in vergleichbaren zukünftigen Situationen helfen kann. Dazu zählen beispielsweise ein präzisiertes Infektionsschutzgesetz, ein achtsameres Infektionsverständnis, ein neuer Umgang mit Arbeitszeit und Home-Office oder neue Perspektiven auf die Möglichkeiten und Grenzen digitalen (Distanz-)Unterrichts. Die Welt hat sich durch den Umgang mit der Pandemie verändert. Im Alltag werden uns viele dieser Veränderungen zur Normalität werden, und ich wage zu bezweifeln, dass wir irgendwann einer ‚guten alten Zeit‘ vor der Corona-Pandemie nachtrauern. Wir werden die meisten pandemiebedingten Anlässe sozialen Wandels einfach vergessen.

3. Wie unterschiedlich werden sich Kinder, Jugendliche, Erwachsene an diese Zeit erinnern?

Individuelles Erinnern hängt mit der Erfahrung von Entbehrungen zusammen. Wenn wir von altersmäßig unterschiedlichen Erlebniswelten ausgehen, kann man sich also fragen, welche Altersgruppe in einer Bevölkerung von welchen Einschnitten auf welche Weise betroffen ist. Kinder erleben vieles mittelbar über ihre Eltern; direkt betroffen sind sie durch Kita- und Schulschließungen sowie durch den Wegfall vieler Freizeitmöglichkeiten. Allerdings bezweifle ich, dass sie sich später genau erinnern werden, solange sie nicht konkrete Verluste erlitten haben. Ähnliches gilt für Jugendliche, die darunter leiden, die in dieser Lebensphase besonders wichtigen Sozialkontakte nicht aufbauen oder pflegen zu können und deren Schulabschlüsse durch die Krise behindert werden. Aber auch für sie wird das Leben weitergehen, und die pandemiebedingten Änderungen werden für sie zur Normalität. Erwachsene dagegen sind für ihr Leben in höherem Maße verantwortlich; sie erfahren Einschnitte am nachhaltigsten und werden sich recht lange an die eine oder andere Episode der Pandemie erinnern. Hinzu kommt, dass die Einrichtung eines Pandemiegedenkens vorstellbar ist: Das Anzünden einer Kerze im Fenster an einem bestimmten Tag könnte zu einem kulturellen Gedenkritual gemacht werden. Ohne solche erinnerungskulturellen Anlässe wird von der Pandemie jedoch auch nur das bleiben, was in die Programme der Gesellschaft eingeflossen ist. Das ist eine ganze Menge – aber im Alltag wird das kaum spürbar sein, und wir Erwachsene werden uns nach einiger Zeit an die wenigsten dieser Umstellungen erinnern.

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