• Klartext
  • Interview
  • „Gesundheitsdaten müssen im Sinne des Gemeinwohls behandelt werden“

11.05.2023

PD Dr. Jessica Heesen

„Gesundheitsdaten müssen im Sinne des Gemeinwohls behandelt werden“

Das Foto zeigt Dr. Jessica Heesen, Leiterin des Forschungsschwerpunkts Medienethik und Informationstechnik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen.
Privatdozentin Dr. Jessica Heesen beschäftigt sich unter anderem mit ethischen und philosophischen Debatten im Bereich Medien und Digitalisierung. Foto: S. Icks

Welche ethischen Grenzen überschreiten die Pläne der EU-Kommission für einen europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) aus Ihrer Sicht?

Beim EHDS geht es um Gesundheit als hohes Gut. Die Herstellung von Gesundheit ist an sich ein Ziel, das ethisch gerechtfertigt ist. Zur Erreichung dieses Ziels müssen aber verschiedene konkurrierende Interessen und Werte miteinander abgewogen werden. Als prominentes Beispiel sind hier die Probleme des Verordnungsentwurfs in Bezug auf die informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten zu nennen. Die Weitergabe von Daten im großen Stil birgt Risiken in Bezug auf die Vertraulichkeit von Informationen über Krankheiten, kann die ärztliche Schweigepflicht in Frage stellen und zudem die Entscheidungsfreiheiten über personenbezogene Daten beschneiden.

 

Daten haben einen sehr hohen gesellschaftlichen Nutzen, nicht nur im Gesundheitsbereich.


Aber auch weitere Punkte sind aus ethischer Perspektive wichtig. Dazu gehören Risiken der Kommerzialisierung des Gesundheitssektors oder der datengetriebenen Prognose von Erkrankungen. Wenn in Zukunft gesammelt alle Daten, sowohl aus dem medizinischen Bereich als auch etwa aus Fitness- oder Menstruationsapps über einzelne Personen vorliegen, dann können Rückschlüsse auf ihren Lebensstil gezogen werden, aber auch auf Krankheiten. Wer darf und soll diese Risiken kennen? Gibt es trotz aller Informationsfreiheiten in Bezug auf die eigenen Daten ein Recht auf Nichtwissen von zukünftigen Erkrankungen? Das sind medizinethische Fragestellungen, die schon lange bekannt sind, sich durch den EHDS aber nochmals verschärfen.

 

Es muss aber sichergestellt werden, dass Gesundheitsdaten vorrangig im Sinne des Gemeinwohls behandelt werden.


Welche Auswirkungen sehen Sie für die Gesundheitsversorgung durch einen solchen Datenraum?

Der EHDS ist erstmal eine rechtliche Initiative, die europaweit Gesundheitsdaten und Leistungen digital harmonisieren soll. Wenn alles funktioniert, sollte eine Verbesserung der individuellen Gesundheitsversorgung zu erwarten sein. Bis dahin ist es allerdings ein steiniger Weg. Ein besonderes Augenmerk muss auf die strukturellen Veränderungen der Gesundheitsversorgung durch die neuen Möglichkeiten für kommerzielle Anbieter im Gesundheitsbereich gelegt werden. Zum einen verfügen die großen Digitalkonzerne bereits über riesige Mengen an Gesundheitsdaten, zum anderen können sie durch die sogenannte Sekundärnutzung von Daten aus Kliniken und Praxen ihre Geschäftsmodelle ausweiten. Bereits jetzt ist „Health as a Service“ ein bedeutendes Marktsegment für Gesundheitsdienstleistungskonzerne. Es muss aber sichergestellt werden, dass Gesundheitsdaten vorrangig im Sinne des Gemeinwohls behandelt werden.


Kritiker sehen in dem Datenraum eine Blackbox, bei der unklar sei, wo die Daten gespeichert werden, wer darauf zugreifen kann und wer sie wie benutzt. Inwiefern besteht die Gefahr, dass die EU mit dem EHDS die hohen Standards der DSGVO verwässert?

Die Gefahr ist gegeben und deshalb ruft der Verordnungsentwurf bereits viele Datenschutzeinrichtungen wie in Deutschland etwa die Datenschutzkonferenz auf den Plan. Insbesondere die Rechte der Betroffenen zu entscheiden, wer zu welchen Zwecken ihre Daten nutzt, wird durch die generelle „Opt-out“-Strategie, also einer Widerspruchsregelung in der Entwurfsfassung, ausgehebelt.

Das Foto zeigt ein Display mit vielen Symbolen, die miteinander vernetzt sind.
Was passiert mit den Daten von Patientinnen und Patienten im EHDS? Foto: iStock / solarseven

Das heißt, Patientendaten werden standardmäßig weitergegeben – sowohl für die Primärnutzung mit Klarnamen im Gesundheitsbereich als auch für die (möglichst anonymisierte oder pseudonymisierte) Sekundärnutzung in der Forschung, zum Training künstlicher Intelligenz oder für Pharmaunternehmen und Gesundheitsdienstleister. Dieser Punkt ist in den Beratungen aber umstritten. Anstelle der einfachen Widerspruchsregelung braucht ein grundrechtskonformer und ethisch akzeptabler Gesundheitsdatenraum eine abgestufte, granulare Einwilligung in verschiedene Datennutzungsformen, die transparent und verständlich dargelegt werden.

 

In welchem Maß ist es vertretbar, der wissenschaftlichen Forschung Daten von Patientinnen und Patienten zur Verfügung zu stellen?

Der Zugriff auf Gesundheitsdaten ist für Fortschritte in der Gesundheitsversorgung sehr wichtig und deshalb auch vertretbar. Auf viele Daten könnte jetzt bereits zugegriffen werden, aber viele Praxen und Krankenhäuser sind aufgrund falsch verstandener Datenschutzbestimmungen hier übervorsichtig oder verfügen nicht über das Personal, um Daten sicher und zuverlässig weiterzugeben.

Generell gilt, dass der Zugriff auch auf personenbezogene Daten umso stärker gerechtfertigt ist, desto höher der Nutzen für das betroffene Individuum ist. Hier muss man in mehreren Abstufungen denken. Auch eine gemeinwohlorientierte Nutzung von Gesundheitsdaten ist letztlich für jede Einzelne und jeden Einzelnen von uns von Vorteil. Die Rechtfertigungsansprüche für die Nutzung der Daten wächst jedoch in dem Maß, wie der Bezug zu den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten sinkt.

 

Das Bild zeigt eine Ärztin, die einem Mann, der ihr gegenüber sitzt, einen Ordner übergibt.
Aus KBV-Sicht darf der geplante europäische Gesundheitsdatenraum nicht das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis stören. Foto: istock / Antonio Guillem

Wie weit muss zwischen kommerziellen und gemeinwohlorientierten Forschungszwecken unterschieden werden?

Diese Unterscheidung ist für die Patientinnen und Patienten wichtig. Die Sekundärnutzung erlaubt die Verarbeitung der Gesundheitsdaten für die Forschung. Das muss nicht immer Forschung sein, die unmittelbar therapeutische Zwecke verfolgt.


„Die Weitergabe von Daten im großen Stil birgt Risiken in Bezug auf die Vertraulichkeit von Informationen über Krankheiten, kann die ärztliche Schweigepflicht in Frage stellen und zudem die Entscheidungsfreiheiten über personenbezogene Daten beschneiden“, sagt Dr. Heesen. Foto: Plattform Lernende Systeme/Thilo Schoch

Forschung ist häufig mit allgemeineren kommerziellen Zwecken verbunden, die jedoch auch ein Treiber für Innovationen sein können. Kommerzielle Forschung mit Gesundheitsdaten kann aber wiederum auch bedeuten, dass sie für Werbung genutzt wird, für Wellnessapps, Kosmetik oder generell den Aufbau einer finanzmächtigen privaten Gesundheitsindustrie der Digitalkonzerne. Der neue Vorschlag der EU-Kommission geht deshalb etwas differenzierter vor und schließt die Datennutzung für Marketing im Gesundheitsbereich aus. Außerdem sollen die EDHS-Daten nicht für die Entwicklung schädlicher Produkte wie Tabak, Alkohol und andere Drogen genutzt werden dürfen. Eine Auswertung der Daten soll auch nicht dazu führen, dass Individuen oder Gruppen höhere Krankenversicherungsbeiträge zahlen müssen oder von Leistungen ausgeschlossen werden.

 

Zuweilen wird ein neues Bewusstsein für die Nutzung von Daten gefordert. Wie leichtfertig ist dieser Wunsch?

Daten haben einen sehr hohen gesellschaftlichen Nutzen, nicht nur im Gesundheitsbereich. Auch für den Umweltschutz, den Verkehr, den Journalismus, für die politische Entscheidungsfindung und vieles mehr. In einer digitalen Gesellschaft hat jeder und jede Einzelne von uns bewusst oder unbewusst Teil an der Herstellung dieser Daten. Wir können erwarten, dass wir von der Weitergabe dieser Daten profitieren – sei es auf individueller oder auf gesellschaftlicher Ebene. Wir brauchen genau dieses Bewusstsein von der Nutzung von Daten und benötigen Rahmenbedingungen, für eine sichere und allgemeinwohlgerechte Datennutzung, damit wir ihre Potenziale nicht leichtfertig verspielen.

Die Fragen stellte Thomas Schmitt

Das könnte Sie auch interessieren