• Klartext
  • Interview
  • „Ineffiziente Patientensteuerung und unzureichende Vernetzung“

26.02.2025

Prof. Dr. Martin Scherer

„Ineffiziente Patientensteuerung und unzureichende Vernetzung“

Portraitfoto von Herrn Professor Doktor Martin Scherer während einer Debatte
Prof. Dr. Martin Scherer fordert im Klartext-Interview bessere politische und rechtliche Rahmenbedingungen für eine schnelle Umsetzung von Reformen der Notfallversorgung. Foto: IMAGO / IPON

Prof. Dr. Martin Scherer ist Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Der in Marburg gebürtige Arzt war unter anderem Co-Autor einer von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Auftrag gegebenen Expertise zur Akut- und Notfallversorgung. Im Klartext-Interview erklärt Scherer, was er für eine Reform der Notfallversorgung für notwendig hält.  

Im Grunde herrscht Einigkeit, dass eine Reform der Notfallversorgung unabdingbar ist. Warum ist eine Lösung für dieses Dauerbrenner-Thema so schwierig?

Die Akut- und Notfallversorgung in Deutschland leidet unter komplexen strukturellen und organisatorischen Problemen, die durch ineffiziente Patientensteuerung, unzureichende Vernetzung zwischen den Akteuren und unterschiedliche Interessenlagen der beteiligten Institutionen verstärkt werden. Ein zentrales Hindernis ist die fragmentierte Struktur des Gesundheitswesens, in der ambulante und stationäre Versorger oft unkoordiniert arbeiten. Zudem verhindern politische und rechtliche Rahmenbedingungen eine schnelle Umsetzung von Reformen.

Beispiele aus anderen Ländern wie den Niederlanden oder Dänemark zeigen, dass eine effektive Reform konsistente Strategien und umfassende Kooperation zwischen Leistungserbringern erfordert. 

 

Wie muss die Akut- und Notfallversorgung der Zukunft aussehen?

Die zukünftige Akut- und Notfallversorgung sollte stärker integriert und patientenorientiert gestaltet werden. Wichtige Elemente wären:
  • Ein flächendeckendes Ersteinschätzungsverfahren zur Steuerung von Patientinnen und Patienten in die richtigen Versorgungsebenen.
  • Integrierte Notfallzentren (INZ), die mit Krankenhäusern und ambulanter Versorgung kooperieren, um Doppelstrukturen zu vermeiden.
  • Digitale Akten und Datentransfer, um den Informationsfluss zwischen Akteuren sicherzustellen.
  • Eine „Hotline-first“-Strategie zur Vorsteuerung von Patientinnen und Patienten vor dem Aufsuchen von Notaufnahmen.
  • Förderung der Telemedizin und Einbindung von nicht-ärztlichem Personal in den aufsuchenden Notdienst.
 
Empfang der Notdienstpraxis im Marienhospital in Mühlheim an der Ruhr
An der Anmeldung der KV-Notfallpraxis im Marienhospital in Mülheim/Ruhr: Ein wichtiges Element der Notfallreform wäre ein flächendeckendes Ersteinschätzungsverfahren zur Steuerung von Patientinnen und Patienten in die richtigen Versorgungsebenen. Foto: IMAGO / Funke Foto Services

Welche Rolle nehmen Vertragsärztinnen und -ärzte sowie Krankenversicherungen dabei ein?

Vertragsärztinnen und -ärzte versorgen mit rund 200 Millionen Akutfällen pro Jahr im Rahmen der Regelversorgung zu den Praxisöffnungszeiten und rund 20 Millionen Akutfällen pro Jahr „out of hours“, also im vertragsärztlichen Notdienst außerhalb der Sprechstundenzeiten, den Großteil der ambulanten Akut- und Notfallpatientinnen und -patienten. Sie könnten die Integration von INZ in bestehende Versorgungsstrukturen fördern und durch innovative Ansätze wie Telemedizin und den Einsatz von Gemeindenotfallsanitätern die Effizienz steigern.

 

 

Zudem verhindern politische und rechtliche Rahmenbedingungen eine schnelle Umsetzung von Reformen.

 

Die Ampel-Regierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der auf Eis liegt. Inwiefern lässt sich darauf aufbauen?

Der Gesetzentwurf enthält bereits vielversprechende Ansätze, wie die Einrichtung von INZ und die Stärkung der ambulanten Versorgung. Allerdings fehlt es an detaillierten Maßnahmen zur Vernetzung der Akteure und zur Digitalisierung. Aufbauend darauf sollte der Fokus auf die Harmonisierung von Ersteinschätzungssystemen und den Ausbau von digitalen Plattformen zur Patientensteuerung gelegt werden. Zudem könnten erfolgreiche Pilotprojekte wie das DEMAND-Programm als Grundlage dienen.
 

Aufbauend darauf sollte der Fokus auf die Harmonisierung von Ersteinschätzungssystemen und den Ausbau von digitalen Plattformen zur Patientensteuerung gelegt werden.

 

Der Schlüssel zum Erfolg liegt nach einhelliger Meinung in einer besseren Patientensteuerung. Wie muss diese funktionieren?

Eine effektive Patientensteuerung sollte auf folgenden Prinzipien basieren:

  • Einführung eines algorithmenbasierten Ersteinschätzungsverfahrens zur frühzeitigen Zuordnung der Patientinnen und Patienten.
  • Förderung der Nutzung der 116117-Hotline als erste Anlaufstelle, kombiniert mit digitalen Selbsthilfe- und Terminvermittlungsangeboten.
  • Nutzung von elektronischen Notfallakten, um die Versorgungskontinuität zu gewährleisten.
  • Einrichtung von INZ an zentralen Krankenhausstandorten, um Patientenströme effizient zu lenken.
  • Ausbau der Telemedizin, um unnötige Besuche zu vermeiden und die aufsuchende Versorgung zu entlasten​.

Die Fragen stellte Thomas Schmitt

Das könnte Sie auch interessieren