13.11.2023
Kerstin Claus
„Kinder können sich nicht alleine schützen“
„Schieb deine Verantwortung nicht weg!“ lautet die diesjährige Botschaft der Kampagne der Missbrauchsbeauftragten des Bundes und des Bundesfamilienministeriums zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Eine Aktionswoche vom 13. bis 19. November soll für eine starke öffentliche Präsenz des Themas sorgen. Im Klartext-Interview spricht Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), über Gewalt in der Familie, die Gefahren der digitalen Welt und die Bedeutung einer kontinuierlichen Dunkelfeldforschung.
Laut einer Forsa-Umfrage von 2021 halten fast 90 Prozent der Befragten es zwar für wahrscheinlich, dass sexualisierte Gewalt im nahen Umfeld, vor allem in Familien, stattfindet, gleichzeitig aber 85 Prozent es für unwahrscheinlich oder ausgeschlossen, dass sexualisierte Gewalt in ihrer eigenen Familie passiert oder passieren könnte. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?
Die Grundüberzeugung, die aus diesem Ergebnis spricht, ist: „Natürlich gibt es so etwas – aber nicht bei mir!“ Die Vorstellung, dass sexuelle Gewalt „woanders“, aber „nicht hier bei mir“ stattfindet, dient verständlicherweise der eigenen Beruhigung – damit verschließen wir aber die Augen davor, dass die meisten Fälle im eigenen Umfeld stattfinden. Um darüber aufzuklären, dass von sexueller Gewalt auch die eigenen Kinder oder Kinder aus unserem persönlichen Umfeld betroffen sein können, haben Bundesfamilienministerin Lisa Paus und ich im November 2022 die Kampagne „Schieb den Gedanken nicht weg!“ gestartet. Jetzt folgt der konsequente nächste Schritt: Wir möchten, dass Menschen Verantwortung für den Schutz von Kindern übernehmen und aktiv werden, wenn sie in ihrem Umfeld einen Verdacht haben oder ihnen etwas komisch vorkommt.
Wir brauchen konsequente Aufarbeitung, wenn wir heute Kinder und Jugendliche besser schützen wollen.
Denn Kinder können sich nicht alleine schützen. Wir möchten alle Erwachsenen aktivieren, nicht wegzusehen – sondern sich beraten zu lassen und Hilfe zu holen. Die Haltung, dass sich schon jemand anders kümmern wird oder dass das nur Sache von „Profis“ sei, ist leider sehr verbreitet, wenn es um den Kinderschutz geht. Mit der Kampagne wollen wir deutlich machen, dass wir alle in der Lage und auch verantwortlich sind, aktiv zum besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt beizutragen.
Bei einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch ist Fingerspitzengefühl gefordert – vor allem bei den Opfern, aber im Verdachtsfall auch bei potenziellen Tätern. Wie sollte man bei einem Verdachtsfall möglichst reagieren?
Ein Kind erlebt sexuelle Gewalt und auch deren Anbahnung meist über einen längeren Zeitraum. Es ist daher wichtig, einem Kind immer wieder zu signalisieren, dass Sie als Ansprechperson zur Verfügung stehen. Sie können fragen: „Du kommst mir verändert vor, belastet dich etwas?“ oder „Du bist so still in letzter Zeit, wenn du reden möchtest, dann bin ich gern für dich da.“ Es ist wichtig, die Kinder oder Jugendlichen immer wieder zu einem Gespräch einzuladen, damit junge Menschen merken: Mit diesem Menschen könnte ich sprechen, wenn es darauf ankommt.
Die Frage ist aber auch, wo können Erwachsene sich beraten lassen und Hilfe finden, wenn sie einen Verdacht haben, denn nicht immer ist der sinnvolle nächste Schritt, das Jugendamt oder die Polizei einzuschalten. Hierfür gibt es unser Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch. Geschulte Fachberaterinnen und -berater können – vertraulich und anonym – dabei helfen, erst einmal telefonisch die Situation zu sortieren und nächste Schritte zu überlegen. In einem solchen Telefonat oder auch über unser Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch findet man zudem viele weitere Informationen und Anlaufstellen, an die man sich auch in Wohnortnähe wenden kann. Wichtig ist: Niemand muss selbst Kinderschutzexpertin oder -experte sein, aber alle sollten wissen, wo man sich beraten lassen kann und wo man Hilfe- und Beratungsangebote vor Ort findet.
Immer häufiger kursieren Darstellungen sexueller Gewalt oder jugendpornografische Inhalte auf den Handys vieler Schülerinnen und Schüler. Im Vergleich zu 2018 haben sich die Zahlen mehr als verzwölffacht. Welche Gefahren gehen damit für Kinder und Jugendliche einher und wie können Erziehungsberechtige und pädagogische Fachkräfte sie davor schützen?
Netzwerke entziehen sich jeder sozialen Kontrolle. In der digitalen Welt wird kaum bemerkt oder etwas dagegen unternommen, wenn Kinder mit sexualisierten Inhalten, Fotos, Videos oder Chats konfrontiert werden, in der analogen Welt würden wir den Fernseher ausmachen und sagen: „Moment mal, das schaust du dir bitte nicht an.“ Eltern und Lehrkräfte sind aber oft ratlos oder fühlen sich ohnmächtig im Umgang mit Minderjährigen und ihrer Mediennutzung. Dabei ist effektiver Kinderschutz auch im Netz möglich: Chats können moderiert oder Kontrollen eingebaut werden, um Textnachrichten mit sexuellen Inhalten oder Versuche, an die privaten Handynummern der Kinder zu kommen, zu verhindern. Außerdem können Altersverifikationen eingeführt werden. Wir müssen uns darauf verständigen, dass Schutzstandards der analogen Welt auch für die digitale Welt gelten müssen. Hier sind die Anbieter gefragt und hier muss Politik mehr konkrete Rahmenbedingungen vorgeben und auf Selbstverpflichtungen der Anbieter hinwirken.
Die aktuelle Kampagne „Schieb deine Verantwortung nicht weg!“ richtet sich vor allem an Erwachsene, die Verantwortung für den Schutz von Kindern übernehmen sollen. Was kann denn seitens der Politik auf Bundes- und Landesebene gegen die erschreckend hohen Zahlen an Missbrauchsfällen getan werden?
Für mich ist das Ziel der Kampagne, dass Menschen vor Ort aktiv werden. Deswegen braucht es niedrigschwellige Aufklärung und Aktionen, bei denen Menschen darüber ins Gespräch kommen. Auch Gemeinde, Städte oder Landkreise können aktiv werden und entscheiden: „Wir sind eine sichere Kommune für Kinder und Jugendliche beim Schutz vor sexueller Gewalt.“ Hierzu gehören dann zum Beispiel die Entwicklung von Schutzkonzepten in Einrichtungen und Vereinen oder Fortbildungsveranstaltungen und Schulungen für Haupt- und Ehrenamtliche und Eltern. Gute Politik braucht aber auch gute Daten. Wir brauchen endlich eine kontinuierliche Dunkelfeldforschung, damit wir sehen, mit welcher Häufigkeit Kinder und Jugendliche in welchen Kontexten sexuelle Gewalt erleiden und ob und wie Prävention wirkt. Verantwortliche Politik, zielgerichtete Polizeiarbeit und guter Kinder- und Jugendschutz auf Bundes- und Landesebene können nur gelingen, wenn Daten aus der Dunkelfeldforschung verlässlich vorliegen und auf dieser Grundlage die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Es braucht deshalb dringend ein eigenes Zentrum für Prävalenzforschung, dass diese Daten regelmäßig erhebt und evaluieren kann.
Die Aufklärungskampagne wurde vor einem Jahr gestartet: Welches Zwischenfazit lässt sich – nach diesem noch recht kurzen Zeitraum – ziehen?
Der bisherige Verlauf ist sehr positiv. Eine erste Auswertung vier Wochen nach dem Kampagnenstart in 2022 hatte ergeben, dass bereits sieben Prozent mehr als davor es für möglich gehalten haben, dass die eigenen Kinder oder Kinder aus dem nahen Umfeld betroffenen sein können. Daran wollen wir anknüpfen, denn es zeigt, dass die Strategie, Erwachsene zu adressieren, die bisher mit dem Thema sexuelle Gewalt wenig bis gar nichts zu tun haben, erfolgreich ist.
Wie steht Deutschland im europäischen Vergleich bei der Aufklärung über und im Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch da?
Deutschland hat politisch verankerte Strukturen aufgebaut, die es in dieser Form im internationalen Vergleich nicht gibt: 2010 wurde das Amt einer oder eines Unabhängigen Beauftragten geschaffen. Unterstützt wird das Amt seit 2015 über einen Betroffenenrat, der die Perspektive und Expertise von Betroffenen verschiedenster Tatkontexte kontinuierlich in die fachliche und politische Arbeit der Beauftragten einbringt – und 2016 wurde zudem eine Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs berufen.
Bei der Vielfalt meiner Aufgaben als Missbrauchsbeauftragte stärkt es mich sehr, mich auf diese strukturierte fachliche Zusammenarbeit stützen zu können. Ich merke immer wieder, wie hoch das Interesse an unseren Strukturen und deren Arbeitsschwerpunkten sowohl in den Bundesländern, aber zunehmend auch international ist. Oft geht es darum, von diesen Strukturen auf Bundesebene zu lernen. Das zeigen auch die vielen Anfragen mit Bitten um Unterstützung in Prozessen, die den Betroffenenrat erreichen. Das „Deutsche Modell“, das wir auf Bundesebene etabliert haben, hat also durchaus Vorbildcharakter. Dazu gehört auch die Aufarbeitungskommission bei meinem Amt. Sie arbeitet – anders als andere Kommissionen international – nicht nur Fälle im kirchlichen Kontext auf. Ihr Fokus beleuchtet alle Kontexte sexueller Gewalt in der Vergangenheit, insbesondere Missbrauch in Familien, im Sport, in der ehemaligen DDR oder auch kontextübergreifend bei Menschen mit Behinderungen. Die Kommission hört Betroffene an und führt Expertinnen- und Expertengespräche durch. Gerade über ihre öffentlichen Hearings gelingt es ihr immer wieder, öffentlich und oftmals erstmalig spezifische Tatkontexte in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Prozesse wie aktuell im Sport wären ohne ihre Initiative so nicht möglich gewesen. Die Aufarbeitungskommission trägt entschieden dazu bei, Gesellschaft über den Zusammenhang von Missbrauch und Machtstrukturen aufzuklären. Sie ist Garant dafür, dass die Perspektive und das Erfahrungswissen von Betroffenen heute aus dem gesellschaftlichen, aber auch politischen Diskurs rund um Aufarbeitung vergangener Gewalttaten nicht mehr wegzudenken ist.
Die Aufarbeitungskommission trägt entschieden dazu bei, Gesellschaft über den Zusammenhang von Missbrauch und Machtstrukturen aufzuklären.
Diese drei Strukturen – Amt einer/eines Unabhängigen Beauftragten, Betroffenenrat und Aufarbeitungskommission – schaffen wichtige Synergien und zeigen, dass Prävention, Intervention, Aufklärung, Forschung und Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untrennbar miteinander verbunden sind. Wir brauchen konsequente Aufarbeitung, wenn wir heute Kinder und Jugendliche besser schützen wollen. Deswegen ist es von großer Bedeutung, dass im Koalitionsvertrag der Bundesregierung festgehalten ist, mein Amt ebenso wie den Betroffenenrat auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen und Aufarbeitung und die Arbeit der Kommission zu stärken. Auch dies wäre dann im internationalen Vergleich ein Novum.
Die Fragen stellten Anna Michel und Thomas Schmitt
Infos und Hilfeangebote
nicht-wegschieben.de – Infos, worauf man achten und was man tun kann. Infomaterialien können kostenlos bestellt werden.
hilfe-portal-missbrauch.de – Infos zum Thema und eine Datenbank, mit der Beratungsstellen vor Ort gesucht werden können. Zudem Online-Beratung und die kostenfreie Nummer des Hilfe-Telefons Sexueller Missbrauch: 0800-22 55 530
kinderschutzhotline.de – medizinische Kinderschutzhotline: Telefonisches Beratungsangebot für Fachpersonal bei Kinderschutzfragen Tel. 0800-19 210 00