30.04.2021

Drei Fragen an ...

Professor Malte Thießen

Das Foto zeigt Prof. Malte Thießen, den Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster.
Professor Malte Thießen leitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster und forscht unter anderem über die Geschichte der Gesundheit, Gesundheitsvorsorge und des Impfens. Foto: LWL/Kathrin Nolt

1. Warum war und ist das Impfen immer auch ein Politikum?

Infektionskrankheiten sind die sozialsten aller Krankheiten. Sie betreffen nie nur den Einzelnen, sondern immer auch sein soziales Umfeld, ja die gesamte Gesellschaft. Impfungen sind deshalb sowohl ein Schutz für den Einzelnen als auch für die Allgemeinheit. Systematische Impfprogramme eröffnen zudem die Möglichkeit, Infektionskrankheiten dauerhaft einzudämmen und mitunter sogar für immer „auszurotten“. Und nicht zuletzt ist der Herdenschutz wichtig, um all jene zu schützen, die nicht geimpft werden können: sehr kleine Kinder beispielsweise oder Menschen mit Vorerkrankungen.

Aus all diesen Gründen geht es beim Impfen nie nur um den Pieks für den Einzelnen, sondern immer auch um das große Ganze und damit um sehr politische Fragen: Was soll die oder der Einzelne zum Wohle der Allgemeinheit leisten? Darf man einzelne Menschen zur Impfung zwingen, um viele Menschenleben zu retten?

Besonders politisch wird es bei der Einführung neuer Impfstoffe. Denn am Anfang sind Impfstoffe meist knapp, so dass Verteilungskämpfe drohen. Daher stellt sich schnell die Frage nach der sozialen Wertigkeit von Menschen oder Gruppen: Wer ist besonders schützenswert oder systemrelevant, wer sollte also bevorzugt immunisiert werden, wer muss hingegen warten und ein Infektionsrisiko tragen?

Kurz gesagt, geht es beim Impfen immer auch um das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Allgemeinheit, zwischen Staat und Individuum sowie zwischen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft und damit um die sehr politische Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben möchten.

2. Die Schutzimpfung gilt als eine Erfolgsgeschichte der Medizin. Wieso mangelt es zuweilen an ihrer Akzeptanz?

Es klingt vielleicht paradox, aber die Erfolgsgeschichte ist zugleich eine Erklärung für die mangelnde Akzeptanz. Impfungen sind das effektivste Mittel gegen Infektionskrankheiten. Nach der Einführung zahlreicher Impfprogramme haben die meisten Deutschen frühere „Volksseuchen“ mittlerweile vergessen. Genau dieser Erfolg ist allerdings zuweilen ein Problem. Denn mit dem Verschwinden der Seuchen stellen sich einige die Frage, ob Impfungen überhaupt noch notwendig sind. Mediziner sprechen dann von einem Vorsorge-Paradoxon. Wir können auch sagen: Impfungen sind Opfer ihrer eigenen Erfolge.

Eine andere Erklärung ist die hohe symbolische Aufladung des Impfens. Impfungen müssen seit jeher für viele Probleme der Welt herhalten. Seit dem 19. Jahrhundert galten sie beispielsweise als Vergiftung des deutschen „Volkskörpers“ durch jüdische Eliten – eine Verschwörungstheorie, die im „Dritten Reich“ besonders beliebt wurde –, aber auch als Werbetrick von Pharmaunternehmen, die angeblich Epidemien schüren würden, um mit Impfungen Kasse zu machen – oder schlimmer noch: Menschenversuche durchzuführen.

Ganz wesentlich für die Akzeptanz ist ein transparenter Umgang mit potenziellen Nebenwirkungen. Auch wenn diese äußerst selten sind, erfordern sie eine Risikoabwägung: Was ist größer und gefährlicher – das Risiko einer Erkrankung oder das möglicher Nebenwirkungen? Gerade im Pandemiefall werden Bedenken vor Nebenwirkungen gelegentlich abgetan. Für die Akzeptanz von Impfungen ist es allerdings hilfreicher, Sorgen erst einmal ernst zu nehmen und aufzuklären über die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen gegenüber dem Erkrankungsrisiko.

Besonders schlecht stand es um die Akzeptanz von Impfungen auch bei der Einführung von Pflichtimpfungen, zum Beispiel gegen die Pocken. Gegen eine Impfpflicht gingen selbst diejenigen auf die Barrikaden, die das Impfen an sich zwar befürworteten, in der Pflicht aber einen unzulässigen staatlichen Eingriff in die Grundrechte des Menschen sahen, zumindest aber eine Haltung des Misstrauens gegenüber dem Staatsbürger. Da Vertrauen die wichtigste Ressource für die Impfakzeptanz ist, ging man im Laufe des 20. Jahrhunderts – zumindest in Westdeutschland – meist zu freiwilligen Impfungen über.

Eine letzte, relativ triviale Erklärung ist die Spritze. Auch wenn es beim Impfen nie nur um den Pieks geht, ist der Pieks für manche eben doch eine recht hohe Hürde. Das lässt sich beispielsweise an dem hohen Zuspruch zur Schluckimpfung gegen Polio seit den 1960er-Jahren oder an „Nasenimpfungen“ gegen Grippe in den 1970er-Jahren nachweisen.

3. Welchen Einfluss hat das Impfen auf die Entwicklung unserer Gesellschaft?

Wir leben heute im Zeitalter der Immunität. Impfungen sind für die meisten von uns eine Selbstverständlichkeit. Die Vorstellung, dass wir gegen Infektionskrankheiten nicht geschützt sein könnten, ist schwer aushaltbar. Das Entsetzen über Aids in den 1980er-Jahren rührte nicht zuletzt aus der Erschütterung dieses selbstverständlichen Sicherheitsgefühls her. Die Selbstverständlichkeit von Immunität kann letztlich zu einem Problem werden, wenn Infektionskrankheiten aus unserem Wahrnehmungshorizont wandern und wir uns in trügerischer Sicherheit wiegen. Dass viele von uns – mich übrigens eingeschlossen – Corona während der ersten Wochen nicht ernst genug genommen haben, ist vielleicht auch eine Folge des trügerischen Sicherheitsgefühls.

Vor allem aber ist das Sicherheitsgefühl ein großer Segen: Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Kindersterblichkeit um ein Vielfaches höher als heute, Infektionskrankheiten waren meist die häufigste Todesursache. Durch Pockennarben gezeichnete Menschen waren genauso allgegenwärtig wie die Sprach- und Hörgeschädigten nach Diphtherieerkrankungen oder die vielen gelähmten „Polio-Kinder“. Immunität ermöglichte der deutschen Gesellschaft letztlich ein Leben ohne Angst vor dem unsichtbaren Tod.

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