03.05.2023

Im Gespräch

„Wir müssen jetzt neue Wege gehen“

Das Foto zeigt Prof. Dr. med. Harry Derouet, den Vorstandsvorsitzenden der KV Saarland und Thomas Rehlinger, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KV Saarland.
San.-Rat Prof. Dr. med. Harry Derouet, Vorstandsvorsitzender der KV Saarland (rechts), und Thomas Rehlinger, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KV Saarland (links). Foto: BeckerBredel Fotografen

1. Was braucht es, um das System der ambulanten Versorgung für die Zukunft zu wappnen?

Das System der Gesundheitsversorgung ist in seinem gegenwärtigen Zustand nicht zukunftsfähig. Der Grund: ein absehbarer, massiver Personalmangel sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich, bei ärztlichen und nicht ärztlichen Fachkräften (Ergebnis einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers GmbH aus dem Jahre 2010 mit dem Titel „Fachkräftemangel - stationärer und ambulanter Bereich bis zum Jahr 2030“).

Obwohl die Personenzahl der im Versorgungssystem tätigen Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten seit Jahren zunimmt, lassen verschiedene Faktoren die Arztzeit, die für die Patientin oder den Patienten zur Verfügung steht, weiter schwinden (Teilzeitarbeit, vermehrt Arbeit als angestellte Ärztin oder angestellter Arzt mit reduziertem Zeitumfang gegenüber selbstständig niedergelassenen Ärztinnen oder Ärzten). Der demografische Wandel macht auch vor der Ärzteschaft nicht halt. Im Saarland sind aktuell circa 20 Prozent der an der Versorgung teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte 65 Jahre oder älter. Vielen Praxen steht ein Generationenwechsel bevor. Und die Nachfolger sind meist nicht gewillt, dauerhaft über 50 Stunden pro Woche zu arbeiten. Dazu kommt noch die Verpflichtung einer regelmäßigen Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst auch an den Wochenenden.

Ein weiterer Zeitfresser ist die Bürokratie. Im Jahr 2020 verschlang sie, statistisch gesehen, in jeder Praxis 61 Arbeitstage (entnommen Hartmannbund 1/2023). Zeit, die Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bei der Patientenversorgung fehlt.

Was können wir tun? Allein mehr Studienplätze werden das Problem auch nicht lösen können, doch wäre ein Anwachsen der Studierendenzahl auf das Niveau von 1989 vor der Wiedervereinigung von ca. 15.000 (ca. 9.000 West, ca. 6.000 Ost) durchaus sinnvoll. Weitere sinnvolle Wege wurden bereits eingeschlagen. Die flächendeckende Einführung der elektronischen Patientenakte könnte Informations- und Dokumentationsarbeit für Ärztinnen und Ärzte verringern, wenn sie denn – so wie angedacht – funktioniert. Doppel- oder Mehrfachuntersuchungen könnten bei Vorlage eines elektronisch verfügbaren Befundes minimiert werden. Die hausarztzentrierte Primärversorgung wurde bereits früher empfohlen, ist derzeit jedoch wegen Fehlens einer ausreichenden Zahl an Primärversorgern nicht umsetzbar. Dies heißt aber nicht, dass das Projekt aufgegeben werden soll.

Die Reduktion von Krankenhausbetten und der Ausbau ambulant-stationärer Primärversorgungszentren ist politisch vorgesehen. Insbesondere im Saarland mit seiner hohen Krankenhausbettendichte stellt dies ein Gebot der Stunde dar. Bereits jetzt sind die im Bettenplan ausgewiesenen Betten vielerorts insbesondere wegen des Mangels an Pflegepersonal auch im Notfall nicht verfügbar. Die Häuser werden dann kurzfristig aus der Notfallversorgung abgemeldet. Ein untragbarer Zustand für die Rettungsleitstellen, die an Zeitfenster gebunden sind.

Modellversuche der Umwandlung von Krankenhäusern in ein Intersektorales Gesundheitszentrum (IGZ) laufen bereits. Diese Versorgungspunkte können die notwendige Zentralisierung der Therapie Schwerkranker durch flächendeckende Versorgung von Patientinnen und Patienten, die über einen Kurzaufenthalt von ein bis zwei Tagen zu therapieren sind, abfedern und die Zentren entlasten. Der Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung liegt zwar bei der Kassenärztlichen Vereinigung, aufgrund der erodierenden Personalressourcen in Klinik und Praxis muss die künftige medizinische Versorgung der Bevölkerung jedoch sektorenübergreifend geplant werden. Es setzt zudem voraus, dass wir für die Menschen, die dort arbeiten, auch eine nachhaltige Arbeitsform finden, in der bürokratische Reglementierungen zurückgedrängt werden und eigenverantwortliches Arbeiten außerhalb von Hierarchieebenen gestärkt wird. Wir müssen ein Arbeitsumfeld schaffen, in dem gerne gearbeitet wird und in dem sich die Leute nicht ausgenutzt fühlen. Und dies gilt nicht nur für Ärztinnen und Ärzte, sondern für alle medizinischen Berufe. Eine Voraussetzung, solche Arbeitsplätze anbieten zu können, ist die Befreiung vom Kostendruck, der auf den Arbeitgebern lastet, das heißt, die Budgetierung muss aufgegeben werden hin zu einer nachhaltigen, kostendeckenden Finanzierung unseres Gesundheitswesens.

 



2. Welches Thema liegt Ihnen für Ihre KV-Region in den nächsten Jahren besonders am Herzen?

Die zukünftige Sicherstellung des Versorgungsauftrages steht im Saarland aktuell vor der Herausforderung einer zurückgehenden Zahl der an der Versorgung teilnehmenden Vertragsärztinnen und -ärzte. Die Zahl der freipraktizierenden Hausärztinnen und Hausärzte ist in den letzten drei Jahren um 5,5 Prozent zurückgegangen (von 509 auf 481). Die Zunahme angestellter Hausärztinnen und Hausärzte in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ [von 23 auf 48, 108 Prozent]) konnte dies nicht vollständig kompensieren (gesamt -0,9 Prozent).

Die KV Saarland

Der Kassenärztlichen Vereinigung Saarland gehören 2.000 Vertragsärztinnen und -ärzte sowie Vertragspsychotherapeutinnen und -psychotherapeuten an. Vorstandsvorsitzender ist seit Januar 2023 Prof. Harry Derouet, Facharzt für Urologie in Neunkirchen. Sein Stellvertreter ist der Allgemeinmediziner Thomas Rehlinger aus Wadern.

 

Auch bei den Fachärztinnen und Fachärzten zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab (Rückgang freipraktizierend von 752 auf 731, entspricht -2,8 Prozent, MVZ-Steigerung von 194 auf 237, Gesamtrückgang -0,5 Prozent). Die Zahl der ermächtigten Ärztinnen und Ärzte ging von 147 auf 142 zurück (-3,4 Prozent). Wegen der Verschiebung der Altersstruktur der Vertragsärztinnen und Vertragsärzte in Richtung höheres Lebensalter (aktuell im Mittel 60 bis 64 Jahre, vor 20 Jahren 45 bis 50 Jahre) ist zudem ein höherer Anteil Renteneintritte für die nähere Zukunft gegenüber vergangenen Jahren zu erwarten. Im Saarland ist die aktuelle Situation wie folgt: 20,7 Prozent der hausärztlich tätigen Kolleginnen und Kollegen sind 65 Jahre oder älter (153 von 740), bei den Fachärztinnen und Fachärzten sind es 15,4 Prozent (148 von 964), bei den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten 18 Prozent (78 von 433). Die Überalterung wird die Personalsituation der Vertragsärztinnen und Vertragsärzte weiter verschärfen. Aktuell haben wir im Saarland 66 offene Hausarztsitze, fachärztlich sind noch elf Niederlassungen möglich. Die allgemeinmedizinische Versorgung ist einer unserer Hauptproblempunkte, an denen wir intensiv arbeiten (zusätzliche Studienplätze bei Verpflichtung, als Allgemeinmedizinerin oder Allgemeinmediziner zu arbeiten, finanzielle Förderung des PJ-Tertials Allgemeinmedizin, finanzielle Weiterbildungshilfen an Praxisinhaberinnen und -inhaber über Strukturfond).

Ein zusätzliches Problem ist die ambulante Notfallinanspruchnahme über die 116117. Diese steigt im Saarland jährlich zweistellig. Dies ist bereits jetzt kaum noch zu bewältigen.




3. Wie möchten Sie es anpacken?

Die Entbudgetierung aller ärztlichen Leistungen ist aus unserer Sicht die Voraussetzung, um langfristig selbstständig verantwortliche Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in der ambulanten Versorgung in ausreichender Zahl halten zu können. Dafür kämpfen wir. Bezüglich des Mangels an Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmedizinern können wir nur auf die Wirkung der bereits getroffenen Maßnahmen hoffen.

Langfristig halten wir eine Befreiung der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte von der Dienstbereitschaft für notwendig. Die KV sollte diesen Auftrag selbst über angestellte Ärztinnen und Ärzte managen, wobei den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten eine freiwillige Teilnahme ermöglicht wird. Dies wäre aus unserer Sicht ein entscheidender Beitrag, die Niederlassung auch für Frauen attraktiver zu machen. Die Fahrdienste sollten aus Sicherheitsgründen nicht mehr allein, sondern mit einem Fahrer – ähnlich wie beim Rettungsdienst – ausgestattet werden, um zu verhindern, dass insbesondere die Kolleginnen in der Nacht alleine zu einem Einsatz ausfahren müssen. Ein solcher Auftrag wird jedoch nicht ohne zusätzliche Kosten zu bewerkstelligen sein. Hier müssen sowohl die Kostenträger als auch der Staat, der in seinem Positionspapier die Notfallversorgung als Daseinsvorsorge tituliert hat, in die Kostenverantwortung genommen werden.

Das Foto zeigt Mediziner, die sich Notizen machen.
Für ein Anheben der Medizinstudierendenzahl auf 15.000 plädiert der Vorstand der KV Saarland. Foto: iStock.com / izusek



4. Welche Bedeutung hat für Sie die ärztliche Selbstverwaltung?

Ärztekammer und KV sind die beiden Säulen der ärztlichen Selbstverwaltung, die bisher ein Garant für ein leistungsfähiges Gesundheitswesen waren. Die Aufgabe der Selbstverwaltung würde bedeuten, dass ein staatliches Gesundheitswesen eingeführt wird. Keines der im Ausland bestehenden staatlichen Systeme hat eine besondere Effizienz abbilden können, man sieht dort Mangelverwaltung, Unterversorgung und altersbezogene Reduktion medizinischer Leistungen zum Nachteil der Patientinnen und Patienten (siehe National Health Service in England). Ein rein privatwirtschaftliches Gesundheitssystem wie in den USA lässt große Teile der sozial schwächeren Bevölkerung ohne eine adäquate medizinische Versorgung. Damit gibt es aus unserer Sicht keine bessere Alternative zu dem bestehenden System.



5. Was wünschen Sie sich von der Politik?

Wir müssen, und zwar jetzt, der Bevölkerung ehrlich kommunizieren, dass sich die medizinische Versorgung in Zukunft für die Patientinnen und Patienten ändern wird. Ohne eine Patientensteuerung kann das Gesundheitswesen mit weniger medizinischem Personal bei steigendem Leistungsbedarf auf Dauer nicht funktionieren. Es muss akzeptiert werden, dass die Wege für medizinische Versorgung weiter und die Wartezeiten länger werden. Kurzfristig müssen Anreizsysteme geschaffen werden, um die medizinische Notfallbehandlung vor dem Kollaps zu bewahren. Ein Selbstbeteiligungsmodell wäre keine deutsche Erfindung, sondern wird in anderen Ländern (zum Beispiel Skandinavien) längst praktiziert. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, dass Deutschland weltweit die höchste Zahl an Arzt-Patienten-Kontakten hat, weil die dafür notwendigen Ressourcen derzeit schon fehlen. Die wahrscheinlich größte Ressource in der medizinischen Versorgung sind überflüssige Arzt-Patienten-Kontakte mit nachfolgender überflüssiger Diagnostik. Hierüber klagen insbesondere die in der Notfallversorgung Tätigen. Ein sicher unpopuläres Zuzahlungsmodell könnte hier aus unserer Sicht Abhilfe schaffen, von dem auch die Kostenträger profitieren würden, um langfristig die Beiträge zur Krankenversicherung für die Einzelne und den Einzelnen noch in einem finanzierbaren Rahmen zu halten. Auch muss die Ressource nicht wahrgenommener Patiententermine sanktioniert werden. Wir haben im Saarland jetzt eine Umfrage unter den Vertragsärztinnen und Vertragsärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten für das zweite Quartal 2023 gestartet, um Vorstellungen über die Dimension des Problems zu erhalten. Die Ergebnisse werden wir dann Politik und Kostenträgern vortragen.

Bestehen Politik und Kostenträger auf einer Fortführung der Budgetierung der Leistungserbringer, bestünde noch Einsparpotenzial durch Reduktion der gesetzlichen Krankenkassen auf eine. Dies würde auch den Aufwand und die Kosten für die Durchführung des Risikostrukturausgleiches entbehrlich machen. Wir müssen jetzt neue Wege gehen und zwar alle zusammen, um nicht hinterher einen Schuldigen für den Zusammenbruch des Systems suchen zu müssen.



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